Venezianische Verlobung
Und dass die Schuhe zu groß waren, traf ebenso wenig zu. Die Schuhe mochten sich nicht dafür eignen,
nach einem geglückten Handgriff in der Menge (oder im Nebel) zu verschwinden, aber für einen zweiten Auftritt an Bord der Erzherzog Sigmund waren sie genau richtig.
Jetzt stand Signor Levi wieder hinter seinem Tresen, und die Fingerspitzen seiner rechten Hand strichen über das Kissen aus blauem Samt. Er sah sie skeptisch an. «Nun? Was sagst du?»
Angelina Zolli bemühte sich, ein ebenso skeptisches Gesicht zu machen. «Ich glaube, es geht so einigermaßen», sagte sie.
Das war so stark untertrieben, dass es praktisch einer Lü ge gleichkam, aber sie konnte es sich nicht leisten, ein Risiko einzugehen.
Signor Levi löste seine Fingerspitzen von dem blauen Kissen und stieß den resignierten Seufzer eines Mannes aus, der gerade gezwungen worden ist, ein schlechtes Geschäft abzuschließen. «Dann gib mir die zehn Lire für das Kleid», sagte er mürrisch. Und anschließend mit einem Achselzucken: «Der Mantel und die Schuhe sind nichts wert.»
Er ließ die Münzen mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers in seinem abgewetzten Gehrock verschwinden. Was Angelina Zolli unwillkürlich zum Lachen brachte, weil er sie dabei an Signor Settembrini erinnerte – jedenfalls wenn man davon absah, dass Signor Settembrini weder einen langen weißen Bart gehabt hatte noch Vorfahren, die den Herrn getötet hatten.
Signor Levi lächelte zum Abschied, und sein Lächeln mitten in seinem weißen Bart schien eine Tür zu einem anderen Gesicht zu öffnen. Angelina Zolli konnte sich auf einmal vorstellen, dass es irgendwo eine Signora Levi und (wer weiß?) auch eine Signorina Levi gab.
«Pass auf dich auf», sagte Signor Levi.
22
Frisch gepflanzte Eiben, jede noch in einem hölzernen Gerüst, säumten die Zufahrt zu Schloss Miramar; dahinter schlängelten sich Kieswege durch verblühte Rabatten und Büsche. In der Ferne konnte Tron die teils kahlen, teils waldbedeckten Anhöhen des Karstgebirges erkennen, über denen sich ein grauer Oktoberhimmel wölbte. Hin und wieder blitzte, durch herbstlich verfärbte Bäume hindurch, der Spiegel der Adria auf.
Der dunkelblaue und mit dem Wappen des Erzherzogs versehene Landauer, der Tron am Lloydanleger erwartete, hatte das Verdeck hochschlagen müssen, denn nach einer sternenklaren Überfahrt begann es bei der Ankunft der Erzherzog Sigmund in Triest zu regnen. Nach Schertzenlechner hatte Tron auf dem Schiff vergeblich Ausschau gehalten. Bis auf Kapitän Landrini und den verwachsenen Chefsteward Putz hatte er niemanden an Bord gesehen, den er kannte.
Sie waren, nachdem sie Triest hinter sich gelassen hatten, auf einer schlecht befestigten Küstenstraße in Richtung Norden gefahren und hatten nach einer halben Stunde das Tor des Parks erreicht, wo zwei Soldaten sie ohne Umstände durchwinkten.
Der Park von Schloss Miramar war erheblich größer, als Tron ihn sich vorgestellt hatte. Er erstreckte sich über viele Morgen sanft zum Meer abfallenden Landes, und wenn es stimmte, dass ganze Schiffsladungen Muttererde auf den mageren Karstboden verteilt werden mussten, damit mehr gedieh als Ginster und Krüppelkiefern, hatte der Erzherzog schon allein für die Anlage des Parks ein Vermögen ausgegeben.
Nachdem sie ein paar Minuten lang durch ein Gehölz gefahren waren, machte der Weg eine Biegung nach links, und plötzlich sah Tron das Meer wieder, das die Bäume verdeckt hatten – und direkt am Meeresrand, mit seinen Zinnen und seinem Turm wie der bizarre Einfall eines Operndekorateurs aussehend, erhob sich Schloss Miramar.
Das Schloss stand hart am Wasser auf einem Felsvor sprung, und durch die nassen Scheiben des Landauers hindurch betrachtet, schienen seine Konturen mit denen des Himmels und des Meeres hinter ihm zu verschmelzen.
Vermutlich war es das, dachte Tron, was den seefahrtbe geisterten Erzherzog zu diesem Bauplatz bewogen hatte:
Wenn man aus einem der Fenster auf der Seeseite des Schlosses blickte, musste man das Gefühl haben, auf der Kommandobrücke eines Schiffes zu stehen.
Der Landauer hielt auf einem kiesbedecken Ehrenhof direkt vor dem Schloss, und Tron wurde von einem überaus höflichen Mann empfangen, der zu einem konventionellen schwarzen Gehrock eine auffällige rote Weste mit einer goldenen Uhrkette trug. Merkwürdig war, dass er sich als Kapitänleutnant von Beust vorstellte – offenbar hatte er seine Gründe, keine
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