Veni, Vidi, Gucci
komme gar nicht mehr zu dem Weißwein, weil es bereits zehn vor acht ist. Wo ist der Sonntag geblieben? Ich muss ein Glas Wasser trinken, mir die Zähne putzen, mir das Gesicht waschen ... Und vor allem muss ich einen klaren Kopf bekommen, bevor die Kinder eintreffen.
Ich gurgle gerade mit Mundwasser, als ich höre, wie unten laut gegen die Haustür gehämmert wird. Ich gehe nach unten und sehe Thomas hinter der Buntglasscheibe. Als ich die Tür öffne, rauscht er wortlos an mir vorbei und verschwindet nach oben in sein Zimmer. Molly kommt jetzt ebenfalls herein, aber nicht ohne zuvor ihre Oma innig zu umarmen.
»Danke, dass du die Kinder genommen hast, Mum«, sage ich, während Molly ins Wohnzimmer geht, wo sie den Fernseher anschaltet.
»Ich habe dir zu danken. Wir hatten einen wundervollen Tag.« Sie strahlt mich an. »Du und Richard, ihr könnt stolz auf eure Kinder sein, weißt du.«
Schon seltsam, ich habe den ganzen Tag keine einzige Träne vergossen, aber nach diesem Satz habe ich das Bedürfnis, mich auf den Boden fallen zu lassen und loszuheulen. Ich kämpfe dagegen an. Ich kämpfe wirklich hart dagegen an. Zum Glück beachtet meine Mutter mich nicht. Sie kramt in ihrer Tragetasche.
»Hier«, sagt sie und drückt mir ein paar Sachen in die Hand. »Das sind ein paar Kleinigkeiten, die ich für Molly gekauft habe, und ein Fußballspiel auf Video für Thomas. Die Kassette stammt von Al, also bitte nicht überspielen. Ich glaube, es handelt sich um ein historisches Match.«
»Danke, aber das wäre doch nicht nötig gewesen.«
»Oh doch. Das sollte ich viel öfter tun.«
Das ist das Höchste an Selbstkritik, was man von meiner Mutter erwarten darf. Falls sie es merkwürdig findet, dass ich sie nicht auf eine Tasse Tee hereinbitte, lässt sie sich das nicht anmerken. Es gelingt mir, mich einigermaßen zusammenzureißen, und ich lehne mich gegen den Türrahmen, um nicht zu schwanken, aber ich muss diese Verabschiedung jetzt schnell hinter mich bringen.
Al kommt mir zur Hilfe. Er sitzt im Wagen und drückt ungeduldig auf die Hupe. Er kann lange Abschiede nicht leiden. Genauso wenig wie kurze. Schließlich hat er zu tun, muss Leute treffen und Tiere abknallen.
»Besser, ich gehe jetzt«, sagt meine Mutter fröhlich. »Die zwei müssen übrigens ins Bett. Sie haben sich heute völlig verausgabt.«
»Nochmals danke, Mum. Und sag auch Al danke von mir, ja?«
Sie wirft mir einen seltsamen Blick zu, dann fragt sie: »Alles in Ordnung, Fran?« Jetzt mustert sie mich genauer. Zum Glück ist die Beleuchtung in der Diele ziemlich schwach. »Du siehst schlecht aus, verglichen mit heute Morgen.«
»Ich musste leider feststellen, dass ich allergisch auf Avocado reagiere. Du weißt schon, die Gesichtsmaske«, sage ich und tätschle meine Wange. »Egal. Wie gesagt, richte Al meinen Dank aus, ja?«
Al hupt in diesem Moment erneut. Meine Mutter, die zwar ein besorgtes Gesicht macht, aber noch nie eine war, die ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten steckt, weicht von mir zurück – sowohl körperlich als auch geistig. »Geht es dir auch wirklich gut?«
»Natürlich geht es mir gut!«, sage ich betont fröhlich. »Ich habe den ganzen Tag gefaulenzt. Ich hatte ja den ganzen Tag für mich!«
Es funktioniert, wenn man nur richtig laut spricht, nicht wahr? Man kann den allergrößten Blödsinn von sich geben, Hauptsache, man spricht laut und im Brustton der Überzeugung, und schon glauben einem die Leute alles. Was dachten Sie, warum Politiker gerne laut werden? Ich habe es bereits gesagt, und ich sage es noch einmal: Das Wetter, das derzeit herrscht, ist inakzeptabel. Unter dieser Labour-Regierung sind die Regenmengen auf Rekordhöhe gestiegen, obwohl sie uns versprochen hat, das Problem anzugehen. Das britische Volk kann sich darauf verlassen, dass eine konservative Regierung für besseres Wetter sorgt ...
Wenn meine kleine »Mein Tag«-Rede meine Mutter auch nicht völlig überzeugt hat, vertreibt sie sie wenigstens von meiner Haustür. Ich winke ihr nach, schließe die Tür und lehne mich von innen dagegen. Jetzt muss ich nur noch die Kinder ins Bett bringen.
Und dann kann ich so viel heulen, wie ich will.
8
D er Umstand, dass ich eine Sonnenbrille trage, hat rein gar nichts mit der Sonne zu tun, die sich heute ohnehin nicht zeigt. Vielmehr ist dies einzig und allein auf die Tatsache zurückzuführen, dass ich gestern mehr Alkohol getrunken habe, als gut für mich ist.
Ich habe ein Glas Wein noch nie als
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