Veni, Vidi, Gucci
vorbei?
In diesem Moment steht Cassie auf und räuspert sich. »Und zum Schluss ...«
Ja! Endlich!
»... brauchen wir noch jemanden für die Moderation. Wer hat Lust, das Mikro zu übernehmen? Das ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Es muss jemand sein mit einer klaren Aussprache, jemand, der schlagfertig ist. Irgendwelche Vorschläge?«
»Was ist mit Martin? Er hat das doch im letzten Jahr ganz prima gemacht –«, wirft eine der Anwesenden ein.
»Wir hätten Martin auch liebend gerne wieder genommen, Susanne, aber er ist an diesem Wochenende für die BBC unterwegs – das habe ich bereits überprüft«, schmettert Annabel ab, als wäre sie Programmdirektorin und der besagte Martin Nachrichtensprecher Martin Bashir und zugleich ihr bester Freund.
Mit einem Mal kommt mir der positivste Gedanke des Vormittags: Moderation? Die kann doch ich übernehmen.
»Gibt es außer Martin noch jemanden, der mit einem Mikrofon umgehen kann?«
Ich, ich, ich! Ich kann mit einem Mikro umgehen.
»Was ist mit Linda?«, schlägt jemand vor. »Immerhin ist sie Motivationstrainerin. Und sie würde das sicher gerne machen.«
»Tut mir leid, aber Linda ist bereits für den Töpferstand eingeteilt. Das musste ich tun, weil ohne sie dort nämlich gar nichts läuft«, sagt Cassie.
Ich könnte moderieren, wisst ihr.
»Oh, ich weiß«, sagt Annabel plötzlich, »was ist denn mit dieser einen Frau ... du weißt schon, die, die den schicken BMW fährt?«
»Wen meinst du?«, fragt Cassie.
»Du weißt schon, die Frau mit dem blauen BMW. Ihr Sohn geht in die zweite Klasse.«
Cassie, die immer noch nicht schlauer ist, sieht ihre Mitstreiterin ausdruckslos an. Annabels Warze scheint grimmig zu pulsieren. »Du kennst sie«, fährt sie fort. »Sie ist sehr hübsch, immer gut gekleidet. Sie hat früher mal fürs Fernsehen gearbeitet ... weißt du, wen ich meine? Sie hat eine Heimwerkersendung auf Channel Four moderiert.«
Cassie runzelt die Stirn, ein sicheres Zeichen, dass sie ihr Gehirn anstrengt.
»Oh Gott, wie heißt sie bloß?«, sagt Annabel verzweifelt.
»Ist diese Frau blond? Meinst du vielleicht Marianne?«, wirft jemand ein.
»Nein, nicht Marianne.« Annabels Gesicht ist nun vor lauter Frust verzerrt. »Ihr kennt sie, ganz sicher. Eine auffällige Erscheinung. Immer schick angezogen, fährt einen BMW ... Und sie hat so eine Tasche mit ganz vielen Schnallen. Und sie lacht immer so nett ...« Annabel lässt den Blick über die ausdruckslosen Gesichter am Tisch schweifen. »Und seit neuestem trägt sie die Haare ganz kurz.«
Oh! Ich weiß, wen sie meint. Ich springe beinahe von meinem Stuhl hoch, weil ich es nicht erwarten kann, meine Erkenntnis mit den anderen zu teilen. »Sie meinen die junge Frau, die schwarz ist, nicht wahr?«
Und plötzlich wissen alle, von wem Annabel spricht. Wir hätten nicht eine Ewigkeit herumrätseln müssen, wenn Annabel es gewagt hätte, ein kleines, aber entscheidendes Detail zu nennen, ein winziges Wörtchen. Nimmt die political correctness allmählich Formen des Wahnsinns an? Wahrscheinlich steckt sie bereits mit einer Zwangsjacke in der Gummizelle.
Am liebsten würde ich lauthals lachen. Weil es zum Lachen ist. Es ist zwar völlig albern, aber ich möchte trotzdem lachen, weil ich plötzlich Nervosität verspüre. Am Tisch herrscht Schweigen, und alle Blicke sind auf mich gerichtet. Nur Natasha bildet eine Ausnahme, weil sie auf ihre Schuhe starrt, weiße schmale Mules, die kein Fleck trübt. Weiße Schuhe ohne einen einzigen Fleck? Das ist in meiner Welt genauso fremd wie in dieser, eine bestimmte Hautfarbe zu nennen.
»Du meinst Marcia, nicht?«, sagt Cassie. »Marcia Robinson.«
»Richtig, super, Cassie«, jubelt Annabel, wodurch ich wieder aus dem Fokus gerate. »Ich rufe sie gleich nachher an. Ich bin sicher, sie macht es gerne.«
Ich hätte es auch machen können, denke ich, aber natürlich behalte ich das für mich.
Nach meinem Tritt ins Fettnäpfchen verspüre ich nicht länger den Wunsch, in der Schule herumzuhängen. Als ich den Gang der Unterstufe durchquere, kann ich nicht widerstehen, vor Thomas’ Klassenzimmer kurz stehen zu bleiben und durch die Glasscheibe hineinzuspähen. Mein Sohn sitzt an seinem Platz am Fenster, wo er zur Abwechslung einmal nicht sehnsüchtig auf die Grünanlage hinausstarrt – beziehungsweise auf den Fußballplatz. Er ist über sein Heft gebeugt. Seine Lehrerin geht langsam zwischen den Reihen entlang und beugt sich über Thomas. Sie nickt
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