Venus
Lage.«
Sie drückt sich an ihm vorbei und ruft: »Morgen! Morgen bringe ich das Geld.«
Maria Magdalena, Togas Frau, steht in der Küche des Goldbrokatzimmers und hackt mit roboterhafter Geschwindigkeit Gemüse, ohne auf ihre Hände zu sehen. Hackhackhack. Ihre schrägen wimpernlosen Augen scannen alles ein, ohne messbare mimische Reaktion.
Maria Magdalena
Cio-Cio-San, die Asiatin mit dem stummen rosenblattförmigen Mund, von ihrem Ehemann Toga »Maria Magdalena« getauft, verbirgt hinter ihrem ungeschminkten Gesicht perfekt die Verzweiflung ihrer Jugend in Thailand, von der niemand weiß, außer uns natürlich. Sie war die jüngste von fünf Töchtern, ihre Eltern starben früh. Ihre einzige Kindheitserinnerung ist die an die geschnürten Füße ihrer chinesischen Großmutter. Füße mit komprimierten Hacken, verkrüppelten, unter die Sohle gebogenen, kleinen Zehen und hohem, kamelbuckligem Spann, Füße die aussahen wie Ziegenhufe. Als die Großmutter starb, legte sich der Großvater auf den Fußboden der Baracke und rührte sich nicht mehr. Er lag dort ohne Konturen wie ein Wassersack, dem Boden vollkommen angepasst. Er atmete, ließ sich füttern, aber er schlug nie mehr die Augen auf, sprach nie mehr ein Wort.
Cio-Cio-San und ihre Schwestern tanzten in Clubs in Bangkok, schliefen mit Touristen, träumten vom Heiraten und davon, woandershin mitgenommen zu werden, irgendwohin, Hauptsache weg. Eine Schwester starb an Syphilis, eine starb an Aids. Zwei schafften den Absprung nach Deutschland und lebten dort mit ihren Ehemännern, einer ein Säufer, der andere ein debiler Sadist, und schickten monatlich Geld. Nur Cio-Cio-San blieb. Sie blieb beim Großvater, beim großen, feuchten, faulenden, stinkenden Tier, das fraß und pisste und schiss, aber nicht mit ihr sprach, sie nicht ansah, nicht in den Arm nahm.
Eines Tages – es war genau sieben Jahre, nachdem der Großvater sich auf den Boden gelegt hatte – hörte sie einfach auf, ihn zu füttern. Sie gab ihm nichts zu essen,sie gab ihm nichts zu trinken, sie wechselte seine Windeln nicht mehr. Nach einem Tag wurde er fahl, sein Gesicht klappte ein, die Kiefer schienen zu schrumpfen. Am zweiten Tag roch der ganze Raum nach Scheiße. Die Ratten huschten aufgeregter als sonst an den Wänden entlang. Seine Lippen platzten mit kleinen Plops auf. Am dritten Tag hörte er auf zu atmen. Drei Stunden später war er kalt und wächsern. Da ging Cio-Cio-San hinaus in die Welt wie ein tapferer kleiner Zinnsoldat, aufrecht, mit ihrem geraden Körper, den jungen knabenhaften Gliedern, dem unbewegten Gesicht, als sei nichts geschehen.
Am Ende der Straße hörte sie Schellenklänge und sah wunderliche Gestalten in weißen und orangefarbenen Gewändern die Straße entlangtanzen und singen. Sie ähnelten mit ihren kahl rasierten Köpfen ein wenig den buddhistischen Mönchen, die sie kannte, aber sie schienen fröhlicher, und auf ihren Skalps waren kleine Haarbüschel vergessen worden. Cio-Cio-San sah, wie sich den Mönchen Passanten anschlossen, wie sie einfach hinterherliefen und mitsangen und mittanzten, also lief sie auch hinterher, war aber zu scheu, um zu tanzen oder gar zu singen. Es roch nach Essen, nach süßem Reis und gebratenem Gemüse. Es gab frisch gebackenes Brot und sauberes Quellwasser. Ein kleiner weißhäutiger Mann mit einem starken Bartschatten faltete die Hände vor der Brust, verbeugte sich und fragte sie nach ihrem Namen. Seine Stimme war weich wie eine Hängematte. Cio-Cio-San wollte antworten, brachte aber kein Wort heraus. Vielleicht, weil sie schon seit Jahren nicht mehr gesprochen hatte. Sie legte sich in die Hängematte seiner Stimme und blieb.
Sie folgte dem kleinen weißen Mann in einen prachtvollen goldenen Palast, den sie noch nie zuvor gesehen hatte, der über Nacht aus dem Boden geschossen zu sein schien. Von Buddha war dort weit und breit nichts zu sehen. Der Gott der Mönche hatte blaue Haut und spielte Flöte. Alle warfen sich vor ihm nieder, fielen mit der Stirn auf den Boden, auch Cio-Cio-San, da der kleine weiße Mann sie sanft darum gebeten hatte. Sie fand das alles viel weniger schlimm als das fressende scheißende Großvatertier, und der kleine weiße Mann gefiel ihr. Aber immer noch brachte sie kein Wort heraus. Das ist Gottes Strafe, dachte sie, er hat mich stumm gemacht, weil ich den Großvater ermordet und den Ratten zum Fraß vorgeworfen habe.
Sie lebte in einer kleinen Hütte neben dem Palast, lernte, die Schellen zu schlagen
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