Venus
Fahnenappell. Ich muss da seit einer Woche hin, seit ich Permanenter bin. Erst war es hart, aber … man gewöhnt sich dran, wirst schon sehen. Wo werden sie dich einquartieren?«
»Ich weiß nicht«, antwortet Venus, »bei einer Dingsfriede.«
»Na halleluja!«
Von draußen ist eine kräftige männliche Singstimme zu hören. Es ist Mau, der sich selbst auf der Gitarre begleitet. Im schluchzenden Falsett singt er ein Lied:
»Ehe ich weinend zu Boden stürze,
Sei gnädig und komm
Mit deiner göttlichen Flöte zu mir …
Ich kann ohne deinen Anblick nicht leben,
Du einzige Wirklichkeit, komm zu mir, komm!«
Venus und Benito sehen sich an, Venus verkneift sich das Lachen, Benito versucht es gar nicht erst. »Komm her mit deiner Flöte«, wiederholt er im Lachkrampf immer wieder. Gekränkt bricht Mau seinen Vortrag ab.
Bringfriede
Seit ihrem vierten Lebensjahr, als eines Nachts jemand mit eisernem Griff ihre Knöchel umklammerte und sie schweißgebadet erwachte, schreiend, von den Eltern der Lügen bezichtigt, leidet die Tochter aus reichem englischem Haus an Albträumen und dunklen Visionen. Noch wochenlang hatte sie blaue Flecken, die sie aus Angst vor der elterlichen Strafe verbarg, noch jahrelang spürte sie den Griff um ihre Knöchel, die zweifelsfrei teuflische Kraft, die an ihr zog, die sie in die Hölle hinabziehen wollte. Mit zehn wurde sie in ein Internat in den Schweizer Alpen gesteckt, wo man ihr für ein Vermögen Anstand, Demut und mehrere Sprachen beibringen sollte.
Dies schien ihr nicht zu bekommen. Mit vierzehn wurde sie Jeanne d’Arc und kam in psychiatrische Behandlung. Mit sechzehn wurde sie Jesus und in ein idyllisch gelegenes Sanatorium eingewiesen. Als sie zwei Jahre später »geheilt« entlassen wurde, war sie immer noch Jesus, nun aber heimlich. Sie wollte kein Studium antreten, zog in ein evangelisches Kloster und wurde Diakonisse, obwohl sie ja eigentlich Jesus war, herabgestiegen, um die Menschheit von ihrem Leiden zu erlösen. Das genaue Datum stand noch aus, Bringfriede wartete auf ein Zeichen. Die Rettung der Menschheit sollte eine Überraschung werden.
Im Rahmen eines Austausches kam die 20-Jährige nach Florida in eine andere Klosterfiliale ihres Ordens. Sie erregte Aufsehen, weil sie sich, was unter evangelischen Diakonissen unüblich ist, das Haupthaar schor und das Häubchen keck auf der Glatze trug. Einmal, als die Diakonissen Badetag hatten und mit ihren einteiligen großräumigen Badegewändern unter den mittelalterlichen grauen Nonnentrachten im Grüppchen zumStrand liefen, erhielt Bringfriede von ihrem Vater, Gott selbst, den Auftrag, sich nackt auszuziehen, nackt bis aufs Häubchen, und übers Wasser zu laufen. Teile der Aufgabe misslangen.
Bringfriede wurde gerettet, vom Orden suspendiert und in eine New Yorker Klinik eingewiesen, wo sie mit Van Gogh, Einstein, Hannibal und Sokrates ein recht polemisches Leben unter hoher Medikation führte. Zehn Jahre später brachte sie die eigene Krankenakte in ihren Besitz und musste darin lesen, dass sie »psychopathisch minderwertig« sei und an »hysterischen Affektionen« litte. Obendrein nannte man sie eine »pathologische Lügnerin«. Bringfriede, tief gekränkt, brach aus, indem sie den Nachtwächter erst verführte und dann – lebensgefährlich, aber nicht tödlich – in die Kehle biss. Sie arbeitete fünf Jahre lang mehr oder minder erfolgreich als Handleserin im Greenwich Village. Im Alter von vierzig Jahren wandte sie sich den Lehren des Nostradamus zu und wurde vollends verrückt. Bald nahm sie in ihr Wahrsager-Programm Anleitungen zu Voodoo, Todeszauber, zur Dämonenbeschwörung, zum Teufelspakt, zu satanischen Ritualen, Rachezauber und die Kristallkugel auf. Als es ihr zur Gewohnheit wurde, die Kunden wegen ihrer banalen Lebensgeschichten zu beleidigen, kamen keine mehr.
Schließlich verschwand Bringfriede aus ihrer Wohnung und streifte monatelang durch New York, wo sie sich Passanten abwechselnd als Buddha und Satan vorstellte. Toga griff sie eines Tages auf, als sie im Vorraum des Tempels Schuhe stahl, nur jeweils einen, um, wie sie angab, die Einbeinigen New Yorks damit zu kleiden. Als er sie fragte, warum sie es so eilig habe, flüsterte sie ihm zu, das Jüngste Gericht sei nah. Die Polachsen würden sich inKürze empfindlich verschieben und ein großer Meteorit würde in die Nordsee einschlagen. Der Kontinent Amerika würde auseinander brechen und zwei Drittel der Menschheit würden von Raumschiffen
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