Venus
junge Polizist hatte im Prinzip alle Fragen mit Ja beantwortet. Ja, die junge Frau habe der auf dem Foto geähnelt. Ja, sie habe ein rotes Kleid getragen. Ja, er würde sie wiedererkennen. Dann fragte Boone zu Testzwecken, ob sie einen türkisfarbenen Schminkkoffer in der Hand gehalten habe. Ja, sagte der Polizist, auch dies treffe zu. Sicher hätte er im Zweifelsfalle auch bestätigt, dass sie auf einem Elefanten geritten war.
»Der scheidet also aus«, murmelt Boone vor sich hin. Erst als er seinen Wagen schon fast wieder erreicht hat,erst als er nach seinem Autoschlüssel suchen will, stellt er fest, dass er etwas Verknülltes in der linken Hand hält: eine fettdurchtränkte Papptüte, in welcher sich ein zerquetschter und nach Verkostung für sehr schmackhaft befundener Cranberry-Muffin findet sowie ein pinkfarbener Handzettel, auf dem für ein Bed&Breakfast namens »God’s Motel« geworben wird, Avenue B, ganz in der Nähe, direkt am Park.
Boone, der sich, anstatt zu joggen, mit Gebäck voll gestopft hat, will diesen Tag erfolgreich zu Ende bringen. Eine scharfsinnige Eingebung haben. Eine sinnvolle Entscheidung treffen. Irgendwas.
Soll er vielleicht doch noch beim Uhrenhändler vorbeifahren? Oder das Alibi der Ehefrau überprüfen? Er erschrickt. Ein Junge mit verkrüppelten Armen und Beinen schiebt sich wie eine Strandkrabbe auf ihn zu und hält eine fingerlose Handfläche auf. Mit einem Dollarschein will sich Boone von seinem Unbehagen loskaufen, aber es gelingt nicht. Fast kommt ihm der Muffin hoch.
Er betrachtet wieder den Handzettel. Wenn er in das Bed&Breakfast einzöge – er müsste sich natürlich nach dem Preis erkundigen, aber die Gegend gefällt ihm gut –, könnte er die Zeit überbrücken, bis er seine neue Wohnung in Brooklyn beziehen kann. Und wer weiß, vielleicht hielt sich die Tatverdächtige dem schwachbrüstigen Zeugen zum Trotz doch hier in der Nähe auf, war hier im Park oder in der Nachbarschaft. Vielleicht könnte er seine Bleibe sogar als Recherche geltend machen, solche und ähnliche Gedanken gehen dem Mann durch den Kopf, als er sein Auto erreicht.
Er zieht fluchend einen Strafzettel hinterm Scheibenwischer hervor und steigt ein. Drinnen zieht er seineausgedienten blassgrünen Karteikarten aus der Jackentasche, starrt sie an und steckt sie wieder ein. Dann fährt er und steht, fährt und steht, hupt und trommelt aufs Lenkrad. Sein abwesender Blick bleibt an einer dicken Inderin hängen, die ein rotes Kleid trägt, in dessen Seiten weiße Keile eingearbeitet sind. Das Rot des Kleides erinnert ihn an etwas.
Er schwitzt sehr stark, ist immer noch mit der Überlegung beschäftigt, sich in God’s Motel einzumieten, und schließlich kann er nicht vier Sachen auf einmal: fahren, schwitzen, eine Entscheidung fällen und über rote Kleider nachdenken. Erschwerend kommt noch hinzu, dass er auch an nichts glaubt, zumindest nicht an eine höhere Gerechtigkeit. Es ist ihm vollkommen klar, und das, obwohl Muhme Annie ihn stets aufforderte, Zeichen zu folgen, obwohl ihn vorhin ein Engel geküsst hat, es ist ihm vollkommen klar, dass er, Daniel Hiob Boone, ganz allein im Universum ist.
Im Goldbrokatzimmer gießt sich Venus pfeifend, wie alle Menschen, die Absichtslosigkeit vortäuschen, einen Tee auf, und während sie das tut, macht Daniel H. Boone unten auf der Straße eine Vollbremsung. Ein rotes Kleid! Ein rotes Kleid von Marc Jacobs! Er muss die dicke Inderin wiederfinden! Er hat so ein Gefühl. Er setzt zurück, ohne in den Rückspiegel zu sehen. Doch ist Daniel H. Boone weder im Universum allein noch auf der Avenue B. Es kracht furchtbar, dann schwinden ihm die Sinne.
Arjuna, der krummbeinige Küchenchef, wirft einen Blick aus dem Fenster, schüttelt den grauschwarzmähnigen Löwenkopf, pfeift leise durch die Zähne und betritt hinter seiner Frau das Goldbrokatzimmer. Er hat leichtgeschlitzte Augen im dunkelhäutigen Gesicht. Man könnte ihn eher für einen Mexikaner halten. Er trägt den üblichen schmutzigen weißen Rock, eine Lunghi, die uns an ein kräftig benutztes Geschirrtuch erinnert. Venus’ cremefarbene Kleidung erinnert Arjuna wiederum an die ersten Monate nach seiner Einweihung, als helle Farben Pflicht waren, um den Göttern Respekt zu erweisen. Aber das ist auch schon wieder fast ein halbes Jahrhundert her.
»Hast du meine Frau schon kennen gelernt?«, fragt er Venus. Sie dreht sich um und ist enttäuscht, denn sie trinkt nicht einen Tee nach dem anderen, weil sie
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