Venus
alles andersherum? Oder war nicht vielleicht alles gut? Oder war nicht vielleicht alles schlecht? Die weltlichen Gesetze nicht zu beachten, nur Gott untertan zu sein, das erschien dem Scheich die Lösung für all seine Probleme. In den folgenden Jahren, in denen er Südostasien, Osteuropa und Schwarzafrika bereiste, gab es keine Regel, die Ramzi nicht gebrochen hat, mit der Gewissenhaftigkeit, mit der andere Menschen Regeln befolgen.
Ramzi trägt einen bunten Flickenrock, Erbstück seines Großvaters, und einen hohen Derwischhut aus Kork, darunter eine Art weißes Nachthemd mit weit geöffnetem Brustausschnitt. Um seinen Hals klimpert eine Kette aus menschlichen Fingerknochen, ein Abschiedsgeschenk der Aghoris. Warum er in die Neue Welt kam, in der er so deplatziert wirkt, als sei er einem im Fieberwahn gelesenen Hauff-Märchen entsprungen, ob er sich den Titel »Scheich« selbst gegeben hat oder er ihm verliehen wurde, und wenn ja, von wem, ist nicht überliefert. Jedenfalls war er einer der ersten Permanenten unter den Glücklichen Sklaven Gottes.
Toga hat seine liebe Not mit ihm, weil oft Beschwerden laut werden, er habe roten Betelsaft aufs Trottoir gespuckt, Passanten beschimpft, auf der Straße seine Notdurft verrichtet oder Touristinnen Obszönitäten nachgerufen. Scheich Ramzi gibt dazu keine Erklärungen ab. Der ist jenseits von Gut und Böse, sagt Benito nicht ohne Anerkennung, und er weiß vermutlich gar nicht, wie Recht er hat. Der ist verrückt, urteilt hingegen Bringfriede. Wir haben allerdings schon oft beobachtet, dass vor allem Verrückte andere gern für verrückt erklären.
Ramzi nennt sich selbst einen »heiligen Narren« und scheint sich von den Reinheitsgeboten des Korans befreit zu haben: Er wäscht sich selten und gibt ernsthaften Anlass zu der Annahme, sich noch nie die Zähne geputzt zu haben. Die meisten anderen Hausbewohner fürchten sich vor Ramzis düsterem Blick aus schmutzigem verwittertem Gesicht, sie machen einen Bogen um ihn, zumal er sich zuweilen hinter Mauern zu verstecken und sie mit einem »Buh!«-Geräusch zu erschrecken pflegt.
Scheich Ramzi lässt sich also nur begrenzt zu sinnvollen Arbeiten einsetzen. Zuweilen begleitet er Winter und Alien mit ihrem Daily-Bread-Kleinbus zum Tompkins Square Park und hilft ihnen, Muffins auszuteilen, wobei er sich allerdings jeden zweiten teuflisch kichernd selbst in Mund und Taschen stopft. Als Winter, die ein Herz für jede Kreatur hat, ihn einmal küsste, kam sie kaum mehr dazu, »God bless you« hinzuzufügen, da er ihr blitzartig seine pelzige Zunge tief in den Rachen steckte. Sie erbrach sich und murmelte: »Sorry!« Er steckte seinen schmutzigen Finger in Winters Kotze und leckte ihn kichernd ab.
Sein Lager hat Ramzi auf dem Flur vor dem Treppenabsatz zwischen Kirchentrakt und Gästetrakt aufgeschlagen. Es kommt nicht selten vor, dass jemand nachts über den Schlafenden stolpert, der dann, fest in seinen bunten Flickenmantel gewickelt und durch diesen gedämpft, dunkle kehlige Flüche ausstößt oder blitzschnell den Knöchel des Störers packt und zuweilen auch hineinbeißt. Als Toga ihn anfangs erstaunt fragte, ob er nicht täglich fünfmal beten und Heilige Waschungen verrichten müsse, hat Ramzi ihn ausgelacht. »Ich muss nix beten«, sagte er, »ich sein Gebet. Ich muss mich nix waschen, ich sauber, wenn neunundneunzig NamenAllahs aussprechen.« Orthodoxe Religiöse wie Toga nennt Ramzi verächtlich »Gebetsbeamten«, Katholiken »verlügene Menschenfresser«, die Gesänge im Regenbogensaal »Quieken tote Säue«, blonde weißhäutige Frauen ruft er »ungefickte Albinohühner«. Und genau das ist es, was Venus für ihn ist. Ein dürres, hässliches, ungeficktes Albinohuhn.
Unser rotbäckiger Inspektor würde in Ramzis Beschreibung weder seine Hauptverdächtige wiedererkennen noch das feenhafte Wesen, das ihn im Park geküsst hat. Schon gar nicht würde er auf die Idee kommen, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. Daniel H. Boone ist immer noch benommen, er kriegt die Frauenstimme, die ihn mit dem leise gehauchten »God bless you« für den Bruchteil einer Sekunde an die Existenz von Engeln glauben ließ, nicht mehr aus dem Kopf. Zwar hält er immer noch an der Überzeugung fest, dass nur der in der Phantasie erzeugte Kuss ideal ist, jedoch ist dieser tatsächliche Kuss dem in seiner Phantasie erzeugten empfindlich nahe gekommen.
Die Vernehmung des Kollegen indessen kann er unter Ulk verbuchen. Der stiernackige
Weitere Kostenlose Bücher