Venus
Kein Fremder darf die Mala eines Hindus anfassen, denn sie ist von seinem Guru geweiht worden. Aber die Sonne scheint, und das Mädchen weiß es ja nicht besser, und jetzt ist es eh zu spät.
Kurz darauf erregt ein am Straßenrand aufgeschütteter Sandhaufen des Swamis Aufmerksamkeit. Er fährt prüfend mit der linken Hand hinein. »Guter Sand«, murmelt er. »Ausgezeichneter Sand.«
»Darfst du überhaupt mit Frauen spazieren gehen?«, fragt sie, frontal auf interessantere Themen zusteuernd.
»Es ist egal, ob du ein Mann bist oder eine Frau«, erwidert er etwas zu schnell.
Jetzt ist sie eingeschnappt.
»Sieh mal, dort!« Der Swami, der davon nichts merkt, zeigt auf einen Koffer, der neben einer Mülltonne steht.
»Der ist so gut wie neu!« Ein Umstand, der ihn zu erfreuen scheint.
Er bückt sich, betastet den Koffer, so wie er sie nie betasten wird, öffnet ihn, so wie er sie nie öffnen wird – alles mit der linken Hand, während die rechte, mit Ausnahme des Zeigefingers, weiter im Gebetssack wühlt.
»Es sind Sachen drin!« Venus hockt sich neben ihn. Die Kleidungsstücke sind frisch gewaschen, gebügelt und sauber zusammengelegt. Sie sind mit kleinen handgeschriebenenPreisschildern versehen. Vierzig Dollar. Dreißig Dollar. Zehn Dollar.
»Jemand hat sie in Kommission gegeben und nicht verkauft«, sagt sie.
Bliss Swami hat im Koffer Jeans entdeckt, die er prüfend in die Luft hält. Sie sind riesig.
»Passt mir!«, sagt er fachkundig.
»Sie würden einem Elefanten passen«, sagt Venus und lacht und ist gar nicht mehr eingeschnappt. Sie hält kurz ein rotes Kleid in die Höhe, dann fällt ihr aber ein, dass das nicht die intelligenteste Verkleidung wäre, und wühlt und greift nach einem weißen Teddysamt-Anzug, Kapuzenshirt und Hose.
»Alles wie neu!«, sagt Bliss Swami. »Es gibt so viel Schönes auf der Welt.«
Hat er sie zitiert, um sie zu verspotten? Aber das kann nicht sein. Der weiß doch gar nicht, was Spott ist. Sie greift nach noch mehr Sachen, sie rafft, was sie fassen kann. Da sind jede Menge Kleidungsstücke, die ihr passen würden.
»Brauchst du das alles?«, fragt der Swami verwundert. Sie lässt die Sachen fahren, bis auf den Anzug. Sie schämt sich und schüttelt den Kopf.
»Aber den Koffer?«, fragt sie, als der Bliss Swami die Jeans über seine wuchtige Schulter wirft und weitergehen will.
»Ich brauche keinen Koffer«, sagt er, »ich will ja nicht verreisen. Willst du verreisen?«
»Nein, nein!« Um nichts auf der Welt will sie weg von ihm. Sie will seine Glückliche Sklavin sein in alle Ewigkeit, amen.
»Aber ich will mich gleich umziehen«, sagt sie, von sich selbst überrascht. Der Bliss Swami lächelt und zeigtauf dichtes Gebüsch am Straßenrand. Er sieht ihr nach, mit brennenden Augen. Ihm ist die materielle Welt nie ganz fest vorgekommen. Zwei Minuten später ist sie wieder da, mit heißen Wangen hüpft sie auf den Bliss Swami zu wie ein ausgelassenes Kind, im weißen Samtanzug, der ihr passt und bequem und so gut wie nicht verschlissen ist. Unser Held ist entzückt und beunruhigt zugleich. Ihre Erscheinung erinnert ihn an das Hohelied. Schön wie der Vollmond, rein wie die Sonne, furchtbar wie die Heerscharen, denkt er. Und fragt: »Weißt du inzwischen mehr über dich?«
Aus irgendeinem Grund fällt ihr ein, dass sie laut Bringfriede ein neptunischer Mensch ist. Sie laufen einige Schritte. Sie zaudert. Ihr Herzschlag verdoppelt die Frequenz.
»Ich weiß, dass ich … vielleicht … in dich verliebt bin«, hört sie sich sagen.
Furchtbar wie die Heerscharen, denkt er, weiterlaufend, Schritt um Schritt möchte er seine gemeinen menschlichen Beschränkungen hinter sich bringen. Er antwortet nicht. Sie hält den Atem an, ihre Schritte werden hastig. Hat er sie nicht gehört? Will er sie nicht gehört haben?
»Und du?«, sagt sie, weil sie die Stille nicht mehr aushält, »was weißt du über dich?«
Bliss Swami reibt seinen Bart. Dabei macht er ein Gesicht, als würde er zum ersten Mal über sich nachdenken.
»Vermutlich bin ich …ähm … von dir besessen«, sagt er. Mit Gebeten versucht er seit Tagen, diese schlimmen Worte bei sich zu behalten. Vergeblich.
Venus bleibt stehen. »Das ist bedauerlich«, sagt sie schockiert. »Wirklich bedauerlich!«
Nun, da er nicht verliebt ist, sondern das Gegenteil, besessen, macht er sie zu dem, von dem man besessen ist, zum Teufel. Etwas ist gegen seinen Willen geschehen. Ein Besessener muss geheilt werden. Ein Besessener
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