Venus
lange nicht. Ich stoße nur an die Grenzen des Verstandes anderer Leute.« Aller anderen Leute, ergänzt er bei sich.
»Bei mir ist es auch kein Verstandesproblem«, verteidigt sich Venus. Allein will sie nicht als Idiot dastehen. »Ich habe mein Gedächtnis verloren.«
»Na wunderbar! Beneidenswert! Eine Chance, die man wahrnehmen muss. Aber was willst du dann hier in diesem Irrenhaus?«
»Du bist doch auch hier!«
»Ja, aber ich weiß , dass es ein Irrenhaus ist. Außerdem ist es ohnehin zu spät für mich. Aber du? Fang halt neu an. Verkriech dich nicht in einer Gruppe von Psychopathen, die hier sind, weil sie hier nicht denken müssen. Bleib nicht bei diesen Losern, die die Hoffnung längst aufgegeben haben. Mach lieber eine Therapie.«
Sie merkt förmlich, wie die Mohnblumen an ihrem Hals wachsen.
»Ich weiß nicht, ob ich ausgerechnet mit dir meine Probleme besprechen sollte.« Was bildet sich dieser Typ eigentlich ein? Das Thema Bliss Swami jedenfalls, so viel ist klar, wird sie auf keinen Fall anschneiden. Benito würde sie auslachen. Er würde sie ab sofort bei jeder sich bietenden Gelegenheit verspotten. Der hat bestimmt noch nie Liebeskummer gehabt, der braucht keinen anderen Menschen, um Kummer zu haben, denkt sie.
Was den Liebeskummer betrifft, so irrt sie sich gewaltig, unsere Venus, denn Benitos große Liebe, die Kellnerin Rajana, hat eine nässende Wunde in seinem Herzen hinterlassen, die nicht nur bei jeder Bewegung schmerzt, wie etwa ein offener Rücken, sondern auch bei jedem Gedanken. Aber darüber spricht Benito nicht. Stattdessen neigt er, wie die meisten Atheisten, zum Predigen.
»Diese Suche nach einer Fremdbestimmung, die dich von deinen destruktiven Anteilen löst, die dir Schutz gibt, das kannst du höchstens mal eine Zeit lang machen. Als Symptomtherapie.«
»Die da drinnen sind vielleicht irre, aber sie machen einen erheblich glücklicheren Eindruck als du.«
»Das täuscht. Du bist noch nicht lange genug hier, um das einschätzen zu können. Ich finde, es gibt nichtsArmseligeres, als irgendwelche Scheißregeln einzuhalten, um sich nachher in irgendeinem Himmel zu Tode langweilen zu können. Es gibt nur eine Welt, und die ist nun mal voller Niederlagen.«
Sie mustert sein zerknautschtes Gesicht, die welken Lippen, an deren oberer die Kippe hängt und interessanterweise auch beim Sprechen nicht runterfällt.
»Weißt du, was ich denke? Du bist kein guter Umgang für mich. Ich hab keine Lust, mich von dir anstecken zu lassen.«
Sie laufen ein Stück.
»Nanana«, sagt Benito. Er versteht das nicht. Früher hatte seine angriffslustige Art die allerbeste Wirkung auf Frauen, grade auf spröde Frauen wie diese. Die werden viel zu wenig kritisiert, viel zu wenig beschimpft. Die werden immer nur angebetet, was sie natürlich ankotzt. Daher finden sie die Art seiner Ansprache meist erfrischend. Diese nicht. Möglicherweise hat Venus einfach vergessen, dass sie auf Männer wie ihn steht. Er wird seine Taktik ändern. Er wird es mit der humorigen Kumpeltour versuchen.
»Hör mal, ich hab Hunger«, sagt er. »Was ist heut für ein Tag? Magst du Parmaschinken?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
»Du magst Parmaschinken«, sagt Benito, wobei er die eingecremte Stimme Togas imitiert, »du hast es nur vergessen!«
Es wirkt. »So trübsinnig bist du ja gar nicht.« Venus schenkt ihm ein Lächeln, das ihn zugleich verwirrt und erfreut. Er hat plötzlich das Gefühl, dass sie die Lösung für alle seine Probleme ist.
»Man hat so seine Momente«, sagt Benito und versucht auch ein Lächeln, allerdings erfolglos. Es ist zulange her. Seine Lachmuskeln sind verkümmert. »Komm, ich weiß, wo es donnerstags was umsonst gibt.«
Sie überqueren die Houston Street und laufen nach Südwesten, bis sie einen piekfeinen Delikatessenladen erreichen.
»Heute ist Donnerstag. Da gibt es nachmittags immer Parmaschinken«, sagt Benito. Tatsächlich. Am Wurststand liegt ein silbernes Tablett voller hauchdünner Scheiben zum Kosten. Venus greift eine Faust voll.
»Du, schmeckt mir«, ruft Venus kauend, während der Verkäufer hinter ihnen her schimpft.
»Siehst du, haste was über dich gelernt.«
»Warum nimmst du nichts?«
»Mein Vater war Fleischer.«
»Verstehe.«
Mit diesem dürren Dialog, während dem sie sich einander erstmals nah fühlen, trennen sich die beiden Permanenten. Benito hat einen Termin bei seinem Psychiater. Venus schleicht in ihr Zimmer zurück, froh, niemanden zu
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