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Venus

Venus

Titel: Venus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Buschheuer
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sich neben sie, lehnt sich gegen die Wand, weiß nicht, was sie sagen soll, lauscht im Glück der Unglücklichen.
    »Ich wollte Tänzerin werden«, wimmert Winter. »Aber ich habe meine Träume aufgegeben für sie.«
    »Für wen?«
    »Für ihn.«
    Winter lässt sich lautlos zu Boden gleiten. Hilflos sieht Venus hinunter auf das verfilzte androgyne Kind. Sie liegt da, klein und dünn, wie ein Würmchen, wie ein abgetriebener Embryo.
    »Er hat gesagt, er möchte allein sein. Aber er geht zu einer Frau, zu einer anderen Frau. Ich weiß es.« Sie wimmert nur noch. Leise, kraftlos.
    »Komm mal mit an die frische Luft«, sagt Venus und berührt ihre knochige Schulter. Winter wehrt sie ab. »Nein. Ich warte auf ihn. Er kommt zurück. Er kommt immer zurück.«
    Venus geht allein an die frische Luft, obwohl sie ja gerade an der frischen Luft war. Und außerdem ist sie gar nicht frisch, die Luft. Sie ist stickig und stinkig und schwer wie ein feuchter Hut. Aber wie könnte sie jetzt schlafen? Winter ist zu bedauern, denn sie leidet. Und Winter ist zu beneiden, denn sie liebt. Venus betrachtet ihren Ring. Liebt sie nicht auch? Es ist Mitternacht, als sie das Haus verlässt. Vor der Tür steht Benito, mit hochgezogenen Schultern und runtergezogener Strickmütze. Er raucht.
    »Joggst du neuerdings?«, sagt er, mit spöttischem Blick auf ihren weißen Teddysamt-Anzug und ihre Turnschuhe.
    »Und du? Frierst du mitten im Sommer?«, sagt sie und zeigt auf seine Mütze.
    »Die Mütze ist Ausdruck meiner Individualität«, sagt Benito würdevoll. »Sie dokumentiert, dass ich ich bin und nicht du. Was war denn das für ein Geschrei da oben?«
    »Winter ist unglücklich.«
    »Ach, das Winter schon wieder.«
    »Wieso ›das‹ Winter?«
    »Neutrum. Zwitter. Was weiß ich.«
    »Meinst du, sie tut sich etwas an?«
    Benito lacht bitter auf. »Weißt du, es ist nämlich so, meist sterben die anderen.«
    »Wie meinst du das? Sie ist völlig aufgelöst.«
    »PMS. Alle paar Wochen. Das kriegt sich wieder ein.«
    »Dir tut wohl niemand Leid außer du selbst«, sagt Venus verächtlich. Benito geht ihr plötzlich auf die Nerven. Neulich hat sie gedacht, dass er eigentlich ein netter Kerl ist, aber er ist kein netter Kerl. Er ist weit entfernt davon, ein netter Kerl zu sein. Warum belästigt er alle Welt mit seiner Depression?
    Ein besoffener Penner wankt vorbei. »Jesus ist für dich am Kreuz gestorben«, lallt er Benito zu und entschwindet in die Nacht.
    »Das Gegenteil ist der Fall«, ruft Benito ihm nach, »ich sterbe für ihn. So ist das nämlich!« Dann spricht er wieder leise. »Und ich bin vollkommen im Recht, wenn ich mir Leid tue. Ich tue mir Leid, weil ich niemanden liebe. Und weil mich niemand liebt. Das Freak-Transen-Ding liebt den Techno-Zwitter mit den bunten Kontaktlinsen. Ich hasse die, weil ich neidisch bin. Einen Menschenzu haben, für den man alles aufgeben würde. Es gibt doch nichts Schöneres. Ich hätte auch gern so einen Menschen. Ich würde auch gern spüren, dass ich lebe.«
    Venus sieht ihn erstaunt an. Benitos Zigarette ist bis auf den Filter heruntergebrannt. Er zieht trotzdem noch einmal, verbrennt sich, flucht, lässt den Stummel fallen.
    »Na, siehst du, du lebst«, sagt sie.
    Er sieht sie erstaunt an. »Du bist ja zynisch! Ich wusste gar nicht, dass du zynisch bist.« Anerkennung schwingt mit in seinem Tonfall.
    »Wusste ich auch nicht«, sagt sie. »War das zynisch?«
    »Du, ich hab meine Kamera verkauft«, sagt Benito. »Wollen wir das Geld versaufen?«
    »Gute Idee«, sagt Venus. »Es gibt etwas zu feiern. Ich habe mich soeben verlobt.«
    Auweia, jetzt wird er mich auch hassen, denkt sie. Weil ich einen Menschen habe. Weil ich spüre, dass ich lebe.
    Hass können wir nicht erkennen, aber in Benitos Gesicht kommt zum ersten Mal, seit wir ihn kennen, Leben. Hass ist das nicht. Entgleisung wäre der bessere Ausdruck oder Entgeisterung, vielleicht auch Enttäuschung oder Entsetzen, irgendwas mit E jedenfalls, was genau, ist schwer auszumachen unter den tiefen Furchen der Bitternis, die seinem Gesicht längst den Stempel aufgedrückt haben. Fast macht Benito den Anschein, als sei er soeben einem Betrug auf die Spur gekommen, als hätte diese Frau ihn mit jemandem betrogen.
    Boone, der den ersten Roman seines Lebens in einem Rutsch durchgelesen hat und dessen zähes Herz bewegt ist von der Geschichte des alten Fischers, tappt indessen barfuß im gestreiften Kmart-Pyjama durchs nachtleereGoldbrokatzimmer, getrieben von

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