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Venus

Venus

Titel: Venus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Buschheuer
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Flickenmantels, Kukis Blumengirlande um den Hals. Wie ein Scherenschnitt schleicht sein zitternder Schatten neben ihm her. Er stößt mit seinem Korkhut an, der Hut fällt ihm vom Kopf, er fängt ihn im Fall, zerreißt in der Bewegung versehentlich seine Kette aus menschlichen Fingerknochen und klemmt, während die Knöchlein wie eiserner Regen auf der Treppe niedergehen, seinen Korkhut unter den Arm.
    Den Karton stellt Ramzi ungewöhnlich folgsam im Kühlraum ab, der, obwohl seit Stunden ohne Strom, seine Eiseskälte bewahrt hat. Einen Moment lang bleibt Ramzi im erfrischenden Kälteschwapp stehen, dann schließt er die schwere Tür und setzt sich auf die legendären Kartoffelsäcke. Die Blumengirlande duftet. Er ist 45 Jahre alt und er fühlt sich, als sei soeben seine Pubertät zu Ende gegangen. Er schlägt die beiden wettergegerbten dunkelbraunen Hände vor das Gesicht und schluchzt. Er weiß plötzlich, tief in seinem Herzen weiß er, dass eine Blume schön ist und ein Kadaver hässlich.
    Das Schluchzen weckt Baula, die beim Warten auf ihr nächstes erotisches Opfer in der drückenden Luft des Kellers eingeschlafen ist. Die Sache mit dem Stromausfall hat sie versäumt. Die Geilheit ist verflogen wie ein Furz.
    Die Luft ist schwer, Baulas enges kurzes Kleid durchgeschwitzt. Sie ist zu rasch aufgeschreckt aus ihrem üblichen Traum von Prunk, Exzess und Ekstase, nun ist ihr schwindelig und sie braucht einige Sekunden, um sich zu orientieren. Im Kerzenschein sieht sie die Umrisse einer Gestalt, einer männlichen Gestalt, sieht einen starken, windschiefen Rücken, den sie nicht gleich zuordnen kann, und dieser Rücken zuckt, gebeutelt von einem tiefen krächzenden Schluchzen. Die Situation ist unwirklich, das Schluchzen ist die Essenz aller Trauer, der Mann ist die Essenz aller Männer, Baula nähert sich, fast würde sie auf Zehenspitzen gehen, wenn ihre Füße nicht in spitzen hohen Stiefeln gefangen wären.
    Der Mann sieht aus wie Ramzi, nur besser, und er riecht auch besser, und er ist so traurig und allein, und es ist so dunkel, und sie ist erstmals im Leben ratlos, denn diese Art von Erfahrung, die Tröstungserfahrung, die fehlt ihr bisher, obwohl sie auf ein Regiment von mehreren tausend Liebhabern zurückblickt, aber hat sie jemals einen von denen weinen sehen? Sie stammt aus Brooklyn, sie weiß sich mit Worten zu wehren, sie weiß sich mit Fäusten zu wehren, sie weiß sich mit feuerroten, gebogenen, künstlichen Fingernägeln zu wehren. Sie weiß, wie man Männer ausnimmt, abhängig macht, um den Finger wickelt, sie hat ein mehr als durchschnittliches Repertoire an Sextricks, aber sie ist vollkommen ratlos bei diesem weinenden Mann. Er macht sie weich. Er macht sie traurig.
    Die Frau mit dem schiefen Blick setzt sich neben den Mann mit dem schiefen Rücken, lehnt ihren Kopf an seine Schulter, und fängt die Melodie seines Schluchzens ein, es steckt sie an wie eine Schwingung, eine Welle, es greift auf sie über wie ein gefräßiger Waldbrand, und beide heulen sie wie die Schlosshunde, weiß der Himmel, warum. Er war ein Wegelagerer, ein Dieb, ein Vergewaltiger, ein Mörder. Sie war eine Hure, eine Betrügerin, eine herzensböse Frau. Ihre eher versehentliche Verbindung enthüllt uns ihren tieferen Sinn: Auf eine perfide, fast anrührende Art und Weise haben sie einander verdient.
    Benito hatte im Dämmerlicht seines Verschlags gesessen und war seiner abendlichen Routine nachgegangen: Er hatte mit der Akkuratesse eines Metronoms die zerschlissene Stehlampe aus- und angeschaltet. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Aus. An. Wenn die Glühbirne kaputtgeht, dachte er wie so oft, bring ich mich um. Die Glühbirne war bisher niemals kaputtgegangen. Sie war auch jetzt nicht kaputtgegangen, aber Benito war gefangen in den Scheuklappen seiner Depression, unfähig, die Außenwelt wahrzunehmen. Es war der Stromausfall, der die Glühbirne verlöschen ließ. Es war der Stromausfall, der ihn zum Tode verurteilte. Für ihn war nur entscheidend, dass das Urteil gesprochen war, nicht, warum.
    Als es plötzlich dunkel wurde, erhob er sich von dem von Toga aus rauen Brettern zusammengezimmerten Stuhl, wie jemand, der die Olympiade gewonnen hat und nun das Siegertreppchen besteigt, um die Medaille entgegenzunehmen und die Nationalhymne seines Landes zu hören. Fast war ihm feierlich zumute. Fasthätte er die Hand aufs Herz gelegt. Er verlor eine Stunde, in der er bei Kerzenschein allerhand Abschiedsbriefvarianten erwog und verwarf,

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