Venus
holte dann die Wäscheleine hervor, die er seit Jahren mit sich führte, knüpfte sie an das Wasserrohr, das sich nach amerikanischer Art unter der Zimmerdecke entlangzog, rückte den dilettantisch gezimmerten Stuhl heran und traf chronologisch alle Vorkehrungen, die sich im Laufe seines Lebens in seinem Kopf zu einer Art finaler Checkliste verdichtet hatten.
Es war nicht immer das Erhängen gewesen, das an erster Stelle der erwogenen Entleibungsarten gestanden hatte. Er hatte abwechselnd mit dem Aus-dem-Fenster-Springen, dem Erschießen und dem Pulsadern-Aufschneiden kokettiert. Das Erschießen scheiterte an der Waffenbesorgung, das Aus-dem-Fenster-Springen ließ sich schwer realisieren, da sein Zimmer fensterlos war, und das Pulsadern-Aufschneiden erinnerte ihn zu schmerzhaft an die väterliche Fleischerei, den Blutpudding, die schwabbeligen lila Kalbsleberstücke, die grauen halben Schweineleichen.
Im Moment, als wir sein Zimmer erneut betreten, schließt sich der Strick um Benitos Kehle – er ist noch nicht vom Stuhl gesprungen, er prüft in einer Generalprobe die Gleitfähigkeit der Schlinge –, als der Strick sich widerstandslos zuzieht, fühlt sich Benito paradoxerweise zum ersten Mal seit vielen Jahren, als könne er wieder atmen. Es ist, als sei im Angesicht des Todes alles gegenstandslos geworden. Er hat sich den Tod immer klassisch vorgestellt, als Gerippe, als Sensenmann, mit schwarzem Umhang, leer, kalt und Furcht erregend. Aber nun hat er den Tod gesehen. Er hat ein faltiges Shar-Pei-Gesicht, dünne Lippen und trägt eine Strickmütze.
Der Strick liegt fest um Benitos Hals, aber noch kann er atmen, und plötzlich ist es ihm bewusst, was für ein kostbares Gut das Atmenkönnen ist, er möchte atmen, atmen, atmen und nie mehr aufhören, er möchte sich aufblasen wie ein Ochsenfrosch. Er fühlt sich, als ob er nie zuvor geatmet hätte, als sei er sein Leben lang unter Wasser gewesen. Er spürt, dass er lebt.
Es ist alles vorbei, es ist plötzlich alles vorbei, die Angst, der Schmerz, die Einsamkeit. Er ist nicht mehr in Rajana verliebt. Er ist nicht mehr in Venus verliebt. Der Stein ist weg, Benito leidet nicht mehr an der Welt. Er ist frei. Frei zu sterben, frei zu leben. Wenn er jetzt am Leben bleibt, dann aus freien Stücken, weil er es will, weil er es entschieden hat. In diesem Moment, in dem er dem Tod ins Gesicht sieht, hält Benito den Schlüssel in der Hand. Und er sieht auch die Tür. Und mitten in der tiefsten Dunkelheit ist alles plötzlich sonnenklar. Die Strafe des Sisyphus, denkt der Mann mit der Strickmütze, ist nur dann furchtbar, wenn er hofft, dass es irgendwann aufhört. Sein Herz schwillt an und wird groß und heiß und flüssig und nimmt den ganzen Raum in seiner Brust ein, die sich plötzlich nicht mehr eng und enttäuscht anfühlt, sondern leicht und luftig wie der Brustkorb eines Vogels, der sich mit dem Frühlingswind aufschwingt. Sein flüssiges heißes Herz kriecht in seine tauben Arme und Beine, in jeden Winkel seiner traurigen verhärteten Person und bläst ihn auf wie einen Heliumballon, plustert ihn auf, stopft ihn, füllt ihn mit einem hellen glucksenden Lachen.
Es ist alles so leicht! Er wird neu anfangen, sich einen Job suchen, sich eine Wohnung suchen, sich ein Mädchen suchen. Er wird eine Familie gründen, er wird seine Kinder in die Luft werfen und wieder auffangen, er wirdsich spiegeln in ihren glücklichen erhitzten Gesichtern, ihr Lachen wird hell sein, und seines eine Oktave darunter oder auch zwei, mehrstimmig werden sie lachen, und seine Frau, die in seinem Traum aussieht wie Venus, wird ein Foto von ihnen machen, um einen glücklichen Moment des Familienlebens einzufangen, einen der vielen, der unzähligen glücklichen Momente, die kommen werden.
Benito, der im Bruchteil einer Sekunde das Wunder des Lebens begriffen hat, hebt schwungvoll beide Hände, um den Strick von seinem Hals zu reißen. Verliert in der Bewegung das Gleichgewicht. Er strauchelt. Der von Toga gezimmerte Stuhl bricht unter ihm ein. Der Strick zieht sich zu, seine Halswirbelsäule knackt wie ein Kartoffelchip. Ein letztes Zucken durchläuft seinen hageren Körper. Dann fällt mit erstauntem Ausdruck sein Shar-Pei-Gesicht zusammen.
»War da ein Geräusch?«, fragt Toga, der im Zimmer seiner Frau steht, irritiert von einer von ihm Besitz ergreifenden seltsamen inneren Ruhe. Tut etwa der Gelassenheits-Prayer, den ich so oft gebetet habe, späte Wirkung?, denkt er.
»Es war nichts«,
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