Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
hatte denken lassen.
Leo sah auch nicht hoffnungsvoll aus. Eher wachsam.
Obwohl ihr noch die Schatten unter den Augen hingen.
»Darf ich telefonieren?«
»Natürlich.«
Er brachte ihr das Telefon und zog sich zurück.
Die Redaktion, die sie anrief. Dann Vera. Bei der keiner abnahm. Hätte nicht wenigstens Anni da sein müssen?
Leo stand vorsichtig auf. Sie trug ein großes weißes Hemd.
Harlan reichte ihr eine Tasse Tee.
»Willst du was essen? Ein paar Früchte vielleicht?«
»Ich muss jetzt gehen«, sagte Leo.
»Geh heute Abend früh ins Bett«, sagte Harlan, »mit einem Buch.« Er lächelte und gab ihr einen kleinen alten Band, der griffbereit gewesen war.
»Hatten wir uns heute nicht sehen wollen?«
»Du solltest dich von den Anstrengungen erholen, die ich dir bereite«, sagte Harlan, »schlaf dich mal aus.«
Leo trank den Tee und zog sich an. Harlan küsste sie flüchtig, als sie ging. Erst im Treppenhaus blickte sie auf den Titel des Bandes. Mohn und Gedächtnis. Gedichte von Paul Celan. Hatte er ihr daraus nicht schon vorgelesen?
Leo steckte das Buch in die Tasche und fuhr sich mit den Händen durch das Haar. Nicht einmal einen Kamm hatte sie, doch die kurzen dichten Locken saßen auch noch nach dieser Nacht. Welch eine seltsame Geschichte.
Harlan in die Arme zu fallen und nichts mehr zu wissen.
War sie denn ohnmächtig gewesen?
Hatte ihn das nicht erschreckt?
Leo war müde, als sie in die Redaktion kam, doch auch ein wenig, als sei sie losgelöst. Von was?
Harlan schien ihr heute weit weniger streng gewesen zu sein, als er es sonst oft war. Leo schüttelte den Kopf. Es half nichts.
Sie musste sich erst einmal dem Tag stellen.
Anni war sich sicher, dass sie nur die halbe Wahrheit von Vera und Nick erfuhr. Da saßen die beiden in der Küche und wirkten, als kämen sie aus einer Schlacht, und erzählten ihr, alles sei nicht schlimm. Nur, dass sie Leo nicht fänden.
Anni kochte Kakao. Kaffee half hier nicht. Kakao beruhigte die Nerven und tat der Seele gut. Noch Sahne dazu.
»Du lässt keine Gelegenheit aus, mich zu mästen«, sagte Vera. Doch der heiße Kakao tat ihr gut. Dieser August war von der Art, dass sie durch die Wohnung ging und guckte, wo ein Kaminofen hinpassen könnte.
»Gut, dass ich eben einkaufen war, sagte Anni. »Gibt nachher noch Birnen, Bohnen und Speck.«
Vera und Nick sahen sich an. Sie hatten sich nach Annis Normalität gesehnt, nach ihrer Fürsorge, doch den großen Hunger hatten sie beide heute nicht.
»Wo könnte Leo denn noch stecken?«, fragte Anni, die es gar nicht gern hatte, wenn ihr was vorenthalten wurde. Sie legte ein Messer auf den Küchentisch und schüttete die Tüte mit den Bohnen aus, zögerte und ging dann zum Schrank und holte zwei weitere Messer aus der Schublade. Eignete sich nicht schlecht, so eine gemeinsame Küchenarbeit, um ins Gespräch zukommen.
»Vielleicht ist sie nach Plön zu ihren Eltern gefahren«, schlug Anni vor und häufte geputzte Bohnen vor sich, ehe Vera und Nick angefangen hatten. Sie durfte nicht so schnell sein.
»Warum sollte Leo in der Nacht anderthalb Stunden nach Plön fahren, wenn sie mit einem Glas in der Hand auf meiner Chaiselongue liegen kann?«
»Könnte ja mal was mit dem Vater sein«, sagte Anni, »hat er es nicht am Herzen?«
»Dann rufen wir doch in Plön an«, sagte Nick.
»Um sie da alle zu ängstigen?«, fragte Vera. Sie glaubte an keine medizinischen Notfälle. Harlan war ihr im Kopf.
»Und dieser Kerl«, sagte Anni, »kennt ihr den?«
Nick sah Vera an.
»Woher weißt du davon?«, fragte Vera.
»Ich kann zwei und zwei zusammenzählen. Brauch mir nur Nick anzugucken, und dich vernachlässigt Leo doch auch.«
»Dies zum Thema Anni nicht beunruhigen«, sagte Nick.
Anni sah gleich sehr beunruhigt aus. »Gibt es hier noch was, das ich nicht weiß?«, fragte sie.
Vera schüttelte den Kopf. Sie wusste aus lebenslanger Erfahrung, dass sie Anni jetzt besser nicht ansah. Doch Anni stand auf, um einen Topf auf den Herd zu stellen und den Speck anzubraten.
Sie hatte gerade das Sieb mit den Bohnen in der Hand und war auf dem Weg zum Spülbecken, als es in ihrer Schürze klingelte.
Vera nahm ihr das Telefon aus der Schürzentasche, ehe Anni das Sieb abgestellt hatte.
»Leo«, sagte sie.
»Sag ihr, sie soll kommen und Birnen, Bohnen und Speck essen«, sagte Anni, »das bringt einen auf den Boden.«
Vera ging in den Flur hinaus. Nick fiel es schwer, nicht zu folgen und ihr den Hörer aus der Hand zu
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