Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
an sich genommen?
Philip Perak fand keinen Zettel. Auch dort nicht, wo seine letzte Hoffnung war. Im Schlafzimmer.
Er setzte sich auf die Bettkante und Merlins Betörung kam ihm in den Blick. Was regte er sich auf? Gloria hatte auch in London an ihn gedacht. Sie würde ihn anrufen.
Wenn es ihr auch seltsam vorkommen musste, dass er es nicht war, der sich bei ihr meldete.
Der erste schöne Tag seit langem, wenn auch schon der Duft des Herbstes in ihm war. Der Sommer hatte sich leichtherzig verabschiedet in diesem Jahr.
Jef stand auf der Krugkoppelbrücke und sah auf die Türme der Stadt, die im gelben Licht des Septembers lagen.
Wie sehr sich sein Leben verändert hatte, das vorher so flüchtig gelebt worden war. Als es Vera noch nicht gab.
Aus ihm war ein Mann geworden, der eine Frau liebte und sie nicht mehr gehen lassen würde. Der daran dachte, eine Familie zu haben. Ein Haus am Niederrhein besaß.
Er hatte all das für sich verloren geglaubt.
Jef setzte sich auf die breite Balustrade der Brücke und legte die Noten neben sich aus. Die Lieder des heutigen Abends.
Vera und er bereiteten das Programm selten so sorgsam vor.
Lag es an Nick, der sich angesagt hatte? Oder war schon eine Abschiedsstimmung in ihren Auftritten, der Wunsch, aus jedem der Abende eine kleine Kostbarkeit zu machen?
Ein Konzertagent hatte ihm geantwortet. Bot ihm Verträge außerhalb von Bars an. Theaterproduktionen.
Es war, als sei ein Knoten geplatzt. Alles wurde gut.
Jef sah in die Richtung, aus der Vera kommen sollte.
Sie hatte eine Neigung, sich zu verspäten.
Der einzige kleine Kratzer in der Vollkommenheit.
Jef griff nach den Noten, die ein leichter Wind davonzuwehen versuchte. Stardust. Hatte Vera das je gesungen?
Er spielte es selten. An jenem Abend hatte ihn der Holländer Michel aufgefordert, es zu tun. Jener Abend, an dem Jef zu viel erfahren hatte. Der Mann, der zu viel wusste.
Hatte er die Noten von Que Sera nicht auch dabei?
Stardust. Que Sera. Beides Lieder, die Doris Day gesungen hatte, deren Jungmädchenstimme ganz anders war als die Stimme von Vera.
Veras war die einer wunderbaren erwachsenen Frau, und dennoch schienen diese Lieder für sie geschrieben worden zu sein.
Lass uns Nick ein bisschen einlullen, hatte Vera gesagt.
In Liebeslieder einlullen. Glaubte sie wirklich, dass er jemals wieder mit dieser Leo zusammenkäme?
Jef war sich nicht sicher, ob es Nick zu wünschen war.
Leo schien ihm sehr kapriziös zu sein.
Jef stand auf und beschloss, Vera entgegenzugehen.
Sie kam doch von zu Hause. Oder?
Er tat ein paar Schritte in diese Richtung und blieb dann stehen. Jemand folgte ihm. Nicht Vera. Ihren Schritt kannte er, und sie war auch kaum der Mensch, der einem von hinten die Augen zuhielte und wer bin ich ausriefe.
Litt er immer noch an Verfolgungswahn? Wer sollte Interesse daran haben, ihm nachzugehen an einem schönen Tag, der voller Spaziergänger war, die an der Alster entlanggingen?
Der Chef war nach Frankfurt gefahren, sich einen Barmixer anzusehen, der Furore machte mit seinen Drinks.
Täte der Chef das, wenn hier noch immer Unruhe wäre?
Jef ging weiter. Wer wollte ihm da die Augen zuhalten? Jemand, der Eisenplättchen unter den Schuhen haben musste. Ein Dilettant des Anschleichens, der seinen Weg wieder hinter ihm aufgenommen hatte.
Jef drehte sich jäh um. Jorge, der da vor ihm stand. Der harte Jorge mit der kurzen Lederjacke und CowboystiefeIn an den Füßen. Er hatte zweifelsohne zu viele Filme gesehen.
Jorge ist älter, als er aussieht, und gefährlicher, hatte der Chef gesagt. Jef erinnerte sich der Worte.
»Nun«, sagte Jef, »kann ich etwas für Sie tun?«
»Nicht länger herumquatschen«, sagte Jorge. »Viel zu viele stecken schon die Nasen in unsere Geschäfte. Das heißt, dass einer hier die Fresse nicht halten kann.«
»Ich bin es nicht«, sagte Jef.
Er fühlte sich lächerlich in seiner Angst.
Jorge zog ein Taschenmesser hervor und klappte die Klinge in einer Fuge des Heftes ein. Er fing an, etwas Erde von den Absätzen seiner Stiefel zu kratzen.
»Ich quatsche nicht«, sagte Jef, »warum sollte ich mich in Gefahr bringen? Ich bin ein glücklicher Mensch, so lange ihr mich in Frieden leben lasst.«
»Komme ich in eine spontane Versammlung?«, fragte Vera.
Sie hatte nur die letzten Worte gehört und kannte Jorge auch nicht, doch sie ahnte, worum es ging. Drohten sie Jef schon an solch friedlichen Plätzen, wenige hundert Meter von Veras Wohnung entfernt?
Vera
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