Verbannt
Katzen über ihn redeten, als sei er nicht da. »Na ja, weil er blind ist.«
Kiesel riss die Augen auf. »Was? Das ist ja merkwürdig.«
»Wie findet er sich zurecht?«, fragte Schrei neugierig. »Müsst ihr ihn am Schwanz herumführen?«
Löwenpfote sah, wie sein Bruder die Ohren anlegte und das Maul zu einer wütenden Erwiderung öffnete, doch Distelpfote schnippte ihm rasch mit dem Schwanz über die Schnauze. Zornig spuckte Häherpfote ein Maulvoll Fell aus.
»Er ist blind, aber nicht taub«, miaute Löwenpfote. Er ärgerte sich, weil sie sich seinem Bruder gegenüber so unhöflich benahmen, wollte aber keinen Streit anfangen. »Und er kommt sehr gut klar. Habt ihr noch nie eine blinde Katze gesehen?«
»Nein«, erwiderte Kiesel, als sei allein die Frage schon albern. »Wie kann euer Clan ihn dann allein aus dem Lager gehen lassen?«
Löwenpfote begriff sogleich, was sie damit meinte, und erschauerte. Hier an diesem felsigen Ort würde eine blinde Katze nicht lange überleben. Selbst wenn sie den Klauen der Adler entkäme, würde sie früher oder später in einen Abgrund stürzen.
»Häherpfote ist ein Heiler-Schüler«, warf Distelpfote mit einem abwehrenden Unterton in der Stimme ein.
Kiesel blickte noch erstaunter drein und auch die anderen Zukünftigen spitzten die Ohren.
»Das ist unmöglich!«, rief Spritzer aus. »Wie soll eine blinde Katze euren Clan anführen?«
Was? Löwenpfote und Distelpfote schauten sich an. »Er wird nicht unser Anführer.«
»Aber du … oh, ich verstehe!« Der entsetzte Blick in Kiesels Augen hellte sich auf. »Beim Stamm ist Steinsager unser Seher und Heiler. Und er wählt die Katze aus, die sein Nachfolger sein wird. Aber vermutlich ist es bei euch anders.«
»Wir haben einen Anführer und eine Heiler-Katze«, erklärte Windpfote überheblich.
»Seltsam …«, murmelte Schrei.
Bei sich dachte Löwenpfote, dass die Lebensweise des Stammes noch seltsamer war. Wie konnte Steinsager gute Entscheidungen fällen, wenn er keine Heiler-Katze hatte, die ihn beriet? Vielleicht hätte der Stamm selbst eine Lösung für sein Problem mit den Eindringlingen gefunden, wenn die Katzen nicht so überzeugt wären, dass sie genau das tun mussten, was Steinsager ihnen sagte.
»Hallo, ihr! Wie läuft es bei euch?«
Löwenpfote fuhr zusammen, als plötzlich Eichhornschweifs Stimme hinter ihm ertönte. »Danke, gut.« Er versuchte, überzeugend zu klingen.
»Schön. Aber ich glaube, es ist Zeit, dass ihr euch hinlegt, damit ihr genug Schlaf bekommt. Wie es aussieht, haben wir morgen eine lange Reise vor uns.«
Löwenpfote schluckte den letzten Bissen hinunter und schaute zu seiner Mutter auf. Sie wirkte längst nicht so fröhlich wie sonst, ihr Schwanz schleifte am Boden und ihre Augen schauten sorgenvoll. Bestimmt dachte sie, dass es ein Fehler gewesen war, so einen weiten Weg zurückzulegen, nur um wieder weggeschickt zu werden. Er streckte die Schnauze vor und drückte sie an ihre Nase. Dabei wünschte er sich, er könnte sie trösten und ihr sagen, dass diese dummen Stammeskatzen doch froh über ihre Hilfe sein sollten. Doch vor den Zukünftigen war das nicht möglich.
»Gut«, miaute er. »Wir sehen uns dann morgen.«
Eichhornschweif strich mit ihrem Schwanz über seine Schulter. Dann leckte sie Distelpfote und Häherpfote rasch übers Ohr und tappte leise davon. Löwenpfotes Blick folgte ihr, wie sie durch die Höhle zurück zu den anderen Katzen ging. Er wünschte, er würde bei ihnen liegen und nicht bei dieser Schar fremder Zukünftiger.
»Kommt«, miaute Kiesel und schnippte mit dem Schwanz über Löwenpfotes Ohr. »Ich zeige euch, wo ihr schlafen könnt.«
Sie führte die Schüler zu einer Stelle, wo mehrere flache Kuhlen in den Höhlenboden gegraben und mit Moos und Federn warm ausgepolstert waren.
»Sucht euch eine aus«, lud Kiesel sie ein.
Löwenpfote rollte sich mit Distelpfote und Häherpfote in einer der größeren Kuhlen zusammen. Wenigstens war der Schlafplatz bequem, und einen Moment lang meinte er fast, wieder in der DonnerClan-Kinderstube zu sein. Allerdings war er in der Kinderstube nie von so vielen Sorgen wach gehalten worden.
Er lag mit schmalen Augen da, beobachtete, wie das ständig wechselnde Licht über die Höhlenwände flackerte, und lauschte dem nie endenden Rauschen des Wasserfalls. Hatte er nicht vor Kurzem noch auf einem Hügel gestanden und über den See geschaut, erfüllt von dem Gefühl, ihm könne alles gelingen? Und nun war ihre Reise
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