Verborgen
Freiheit zu singen
Mailand, Juni 1973
Er bog die Broschüre weiter auseinander. Sein Italienisch war mangelhaft. Er las nur das, worauf sein Blick fiel.
Der Sechste Weg führt vom Podium herunter. So laut man auch singen mag, die Botschaft dringt nur so und so weit. Es kommt die Zeit, da der Gesang nicht mehr ausreicht. Die Botschaft muss an viele Ohren dringen, nicht alle erreicht sie vom Podium aus.
Dann heißt es vom Podium heruntersteigen. Nicht mehr zu singen, sondern zu handeln –
Schäme dich nicht deiner Furcht. Verwandle sie vielmehr in eine Waffe. Nutze ihre brennende Säure.
Auch scheue nicht vor Terror zurück. Klammere ihn nicht aus. Wohlbedacht angewandter Terror ist auch eine Form der Kommunikation.
»Das kannst du behalten, wenn du magst.«
Er erschrak und ließ die Broschüre fallen. Ohne dass er es bemerkt hatte, war es fast völlig dunkel geworden. Irgendwo nebenan tropfte ein Wasserhahn. Eberhard stand hinter ihm und rieb sich die Haare mit einem Handtuch trocken. Die Behaarung auf seiner Brust war dunkler, üppig wie ein Tierfell. Sein Blick glitt von Ben zu der Broschüre und weiter zu den Tassen.
»Das riecht gut. Welche ist meine? Die da?«
Er nickte. Eberhard griff nach der Tasse.
»Den so zu machen, hast du in Athen gelernt, oder? Da hatte das Ganze zumindest ein Gutes. Es scheint schon so lange her zu sein. Damals kannte ich dich ja so gut wie gar nicht.«
»Was ist das da?«
»Das?«, sagte Eberhard und hob die Broschüre auf. »Das ist, wie wohl ersichtlich, ein Manifest. Oder ein Handbuch. Ich würde sagen, es ist eher eine Methodologie als eine Liste von Glaubenssätzen. Das habe ich vor ein paar Jahren in einem Laden in Oxford gefunden. Kostenpunkt … schauen wir mal. Zwei Pfund fünfzig. Aber ich habe es billiger bekommen, glaube ich.«
»Wer sind Die Vögel?«
»Waren. Eine italienische Anarchistengruppe. Ihre Gegner nannten sie, nicht ganz unzutreffend, Anarcho-Kommunisten. Die Mitglieder sind alle nicht mehr aktiv. Eine von den Frauen habe ich einmal kennengelernt. Sie führt ein ruhiges Leben. Kein friedliches, denke ich. Gebildet hat sich die Gruppe in der Lombardei. Eine Randerscheinung, aber voller Tatendrang. Sie haben nach wie vor manch Interessantes zu sagen. Du darfst es dir gern ausleihen. Ben?«
Er merkte, dass er zurückgewichen war und sich immer noch weiter von dem Pult, der vergilbten Broschüre und von Eberhard weg bewegte. Das Zwielicht senkte sich zwischen sie.
»Hab keine Angst.«
»Habe ich auch nicht«, sagte er und erkannte im selben Moment, dass es nicht stimmte.
»Du brauchst dich nicht zu fürchten. Bei uns bist du in Sicherheit.«
Jetzt war er bei der Balkontür. Das Schlimmste war Eberhards Seelenruhe. Durch die Dämmerung drang der friedliche Klang von Glocken, die Gläubige zur Abendmesse riefen.
»Ich kenne dich doch gar nicht.«
»Aber natürlich tust du das. Und ich kenne dich. Du hast dich verändert.«
»So?«
»Ganz gewaltig, und zwar zu deinem Vorteil. Die Trennung hat dir gutgetan. Schau nicht so, das sieht albern aus. Wir sind keine Monster, Ben. Wir sind deine Freunde.«
»Das dachte ich.«
»Du weißt, dass wir es sind.«
»Woher soll ich das wissen? Ich kenne keinen von euch. Ich weiß nicht mal, was ihr hier macht.«
»Doch, das weißt du. Wir sind wegen der Ausgrabungen hier, so wie du. Kann natürlich sein, dass du andere Gründe hattest, mir hierher zu folgen, wenn man bedenkt, in welchem Zustand du warst, als ich dich gefunden habe. Es ist wohl nicht weiter verwunderlich, dass wir ebenfalls noch weitere Gründe haben. Wir alle würden liebend gerne etwas aus dem alten Sparta finden und erleben, dass seine Größe wiederentdeckt wird. Aber wir haben auch andere Anliegen hier, und für die ist die Ausgrabung von Nutzen. Sie hilft uns, den Schein zu wahren.«
»Warum habt ihr das nötig?«
Eberhard legte die Broschüre sorgsam quer über das Chaos auf dem Schreibtisch, als wollte er eine Antwort hinauszögern. Die Lichter vom Stadtplatz ließen sein nasses Haar matt schimmern. »Na, ich denke, das weißt du. Im Großen und Ganzen, ja, doch.«
»Nein, das weiß ich nicht.«
»Du lügst. Du belügst dich selbst. Bei dem, was du weißt, musst du es schon lange erraten haben. Du hast bewusst die Augen davor verschlossen. Nach und nach hat es dir gedämmert, bis es so sonnenklar war, dass du es nicht mehr übersehen konntest. Was meinst du, wie froh ich war, als du dich dem endlich gestellt hast,
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