Verborgen
hatten. Unkraut war seit der Jagd aus dem Boden gewachsen, hohe Pflanzen mit schweren Köpfen, die Knospen aschegrau im Dunkeln.
Eberhards Stimme drang an sein Ohr, gedämpft, während sie sich durchs Gebüsch schlugen.
»Ich glaube, das ist Asphodelos, Homers Totenpflanze.«
»Sieht aus wie Unkraut. Ich dachte, das sind Blumen.«
»Ich denke mir, es ist ihnen egal, wie man sie nennt. Und sie werden bestimmt bald blühen. Sie wachsen hier anscheinend genauso gut wie in jeder Unterwelt.«
Das Gelände stieg an, erst sanft, dann steiler, bis die Kiefern schließlich von verkrüppelten Bäumen und Sträuchern abgelöst wurden und sie die meiste Zeit klettern mussten.
Sie kamen auf felsigen Untergrund. Eberhard ging vor ihm, die Hände auf den Hüften, und atmete schwer; er selbst war längst außer Puste und ging in die Hocke, um zu verschnaufen.
Nach einer Weile merkte er, wie still es war. Er hörte den Wind leise in den Bäumen und Felsen. Weit weg meckerte eine Ziege. Ihr eigenes Atmen war das einzige menschliche Geräusch.
Er schaute zurück nach Westen. Sparta war kilometerweit entfernt, ein starres Netz rechtwinklig sich kreuzender heller Linien tief unter ihnen. Sein Puls beschleunigte sich, ein euphorisches Gefühl erfasste ihn, halb Stolz auf die erbrachte Leistung, halb gespannte Erwartung. Die Nacht selbst war nicht mehr dunkel. Der Mond hatte einen trüben Hof – als seien die hohen Luftschichten voller Staub –, und der Himmel eine Resthelligkeit, eine Korona von Lichtverschmutzung rings um den Horizont.
Ein Stein klickte an den Felsen hinter ihm. Er schaute auf und sah Eberhards dunkle Silhouette vor dem Sternhimmel.
»Komm, weiter.«
»Wie weit noch?«
»Nicht mehr weit.«
»Das sagst du immer.«
»Willst du zurückgehen?«
»Dafür ist es doch zu spät, oder?«
Er stand auf. Sie gingen weiter. Auf dem felsigen Untergrund ging es sich leichter, aber hier und da sah er Spalten und jähe Abbrüche. Er blieb dicht hinter Eberhard und breitete die Arme aus, auf einen neuerlichen Sturz gefasst. Ein Lied ging ihm durch den Kopf, ein Ohrwurm, der ihn ablenkte und schier verrückt machte, bis er die Melodie als einen absurd kurzen Teil eines alten Weihnachtslieds erkannte.
The night grows darker now, and the wind grows stronger.
Fails my heart, I know not how: I can go no longer …
Allmählich stieg das Gelände wieder an. Sie kamen an eine senkrechte Felswand. Eine einsame Grille verstummte, als sie sich näherten.
»Haben wir uns verlaufen?«
»Das ist der richtige Weg.«
»Ich schaff das nicht.«
»Natürlich schaffst du es.«
»Schafft Natsuko es bis hierher?«, fragte er, und Eberhard kicherte.
»Zwei von uns steigen hier regelmäßig rauf, zweimal die Woche. Natsuko ist furchtlos, sie stellt sogar Max in den Schatten. Ich vermute, sie wäre draufgängerischer als jeder andere von uns, wenn es hart auf hart käme. Geht’s dir jetzt besser?«
»Nein.«
»Halt dich dicht hinter mir.«
Sie begannen zu klettern. Er roch Holzrauch, eine schwache, anheimelnde Spur einer menschlichen Behausung irgendwo tief drunten. Der Fels schnitt ihm in die Hände. Er war froh über seine Festigkeit. Dann reichte Eberhard ihm die Hand und half ihm auf den letzten Metern, und als sie standen, sah er die verschneiten Gipfel blau im Mondschein, und darunter die Höhlen.
Der Hang, der zu ihnen hinaufführte, war steil und mit Büschen gesprenkelt. Er fiel zurück. Als er endlich oben ankam, saß Eberhard auf einem Felsblock, in den Händen den Becher einer Thermoskanne.
Er sackte neben ihm zusammen und schüttelte die Umhängetasche ab. Sein Hemd war schweißgetränkt. Eberhard hielt ihm den Becher hin.
»Hier.«
»Was ist das?«
» Sideritis. Bergtee. Probier mal. Ich finde, er hilft.«
Sie saßen nebeneinander. Die Luft wurde kälter. Unter sich spürte er die Wärme des Felsens.
»Da oben«, sagte Eberhard, und Ben sah in die Richtung, in die er zeigte. Etwa fünfzehn Meter über ihnen begann die Gipfelregion, eine gen Himmel ragende Kalksteinmasse. In den Wänden sah man überall dunkle Flecke – die Eingänge von Höhlen. Lippen und Münder und Spalten.
»Das sind ja so viele.«
»Da drin haben früher Menschen gewohnt. Vor zwanzigtausend Jahren war das eine Akropolis von Troglodyten. Die Anfänge Griechenlands liegen in seinen Höhlen. Im Lauf der Zeit haben die Erdbeben und die Straßenbauer viele zerstört, aber es sind immer noch unzählige übrig. Unsere ist die nächste
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