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Verborgen

Verborgen

Titel: Verborgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias Hill
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über dem Tal. Unten sah er den Fluss und die Stadt, und dahinter, viele Kilometer entfernt, die Vorberge des Parnon. Er suchte die Straße nach Therapne, fand den Bergrücken, der den Grabungsplatz markierte, schloss dann die Augen und atmete die Luft dieser seltsamen Gegend am Ende der Welt ein, in die er gekommen war. Oliven, Holzrauch, Orangen.
    »Lakonien«, sagte Chrystos. Er war herangekommen und stand am Rand des Parkplatzes. In einer Hand hielt er einen breitkrempigen, abgewetzten Hut, in der anderen eine Plastiktüte von HellaSpar. Er schwenkte den Hut, eine besitzergreifende Geste. »Hinter dem Taygetos – Messenien. Hinter dem Parnon – Arkadien. Früher einmal hat das alles uns gehört.«
    »Uns?«, fragte er, und Chrystos brummte abfällig, als sei das ohne Bedeutung. Er staubte den Hut ab.
    »Hier, für Sie. Wollen Sie?«
    Der Eingang schien unbewacht, doch als sie ihn erreichten, hörte Ben erregte Stimmen aus einem Radio. Der alte Mann hinter dem Schalter winkte sie durch und lauschte weiter seiner Sportsendung mit Hörertelefon. Sie gingen durch das schattige Tor auf die sonnendurchfluteten Straßen hinaus.
    Der Anstieg war steil, und Ben war nach kurzer Zeit außer Atem. Chrystos stapfte bergan wie ein Bauer, und obwohl er sichtlich auch seine Schwierigkeiten hatte, war er ständig ein paar Schritte voraus. Seine Stimme klang hohl, dumpf hallte sie aus Türöffnungen und Bogengängen zurück, während er den verfallenen Bauten Namen gab – Haus Laskaris, Palast der Despoten, Pantanassa-Kloster. Sein Gesicht war hochrot – vor Stolz, wie Ben nach einer Weile erkannte. Als gehörten die Paläste ihm und Ben wäre ein geehrter Besucher.
    Außer ihnen war niemand zu sehen. An einer Querstraße sah Ben aus dem Augenwinkel etwas Schwarzes, eine gebückte, hastende Gestalt, doch als er erneut hinsah, war sie verschwunden, und Krähen stiegen krächzend und im Wind heftig mit den Flügeln schlagend über den Dächern in die Höhe.
    Hoch über der Stadt hielt eine Festung Wache – eine Akropolis über der Akropolis. Sie erklommen die letzten Stufen und standen auf der Höhe der Festung. Der Wind wehte von Süden, pfiff um das Gemäuer und zerrte am Einwickelpapier, als sie das Essen auspackten.
    Sie aßen im Schutz der Mauer. Das Brot war vom Samstag und trocken, aber warm von ihrem anstrengenden Aufstieg in der Sonne. Neben Brot und Wasser hatte Chrystos auch von anderen Sachen mehr als genug mitgebracht. Eine Volvic-Flasche, zu einem Drittel gefüllt mit selbst gekeltertem rosa Retsina, der so stechend roch wie Spiritus. Große Eselsoliven und die kleineren einheimischen, frisch geerntet. Mandeln und Pistazien und mit Thymian bestreute dicke Scheiben Käse. Schnecken in Öl und Kräutern, eingewickelt in dunkelfleckiges Zeitungspapier. Gekochte Hyazinthenzwiebeln.
    »Früher haben viele Menschen hier oben gelebt«, sagte Chrystos und brach das Brot. »Hinter ihren Mauern versteckt.«
    »Wovor?«
    »Feinde. Immer wenn Menschen hier schwach waren, haben sie in den Bergen gelebt. Manchmal ist es leichter.«
    »Schwach zu sein?«
    »Sie stimmen nicht zu. Sie glauben, es ist leicht zu kämpfen.«
    »Das wüsste ich nicht.«
    »Nein? Sie kämpfen nicht für das, woran Sie glauben?«
    Er lachte. »Würde ich schon tun, wenn ich wüsste, woran ich glaube.«
    Ts! Chrystos schüttelte den Kopf. Er zog ein Taschenmesser hervor und schnitt eine der Käsescheiben in der Mitte durch.
    »Probieren Sie.«
    »Er ist gut.«
    »Aus Tripi. Nicht weit von hier. Manche sagen, nach Tripi haben die Spartaner die Kinder gebracht, die krank auf die Welt gekommen waren. Es gibt da einen Felsen, auf dem haben sie sie zurückgelassen. Wissen Sie, wovon ich rede?«
    »Ich würde nicht sagen, dass die Spartaner Helden waren, weil sie neugeborene Kinder ausgesetzt haben.«
    »Keine Helden, das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, es ist schwer, stark zu sein. Es ist nicht leicht, ein Kind zu töten.«
    »Für das Kind ist es auch nicht leicht.«
    »Schwerer für Mutter als für Kind. Um da unten zu leben, ohne Mauern, um Sparta zu sein, nicht Mystras , mussten die Menschen hart sein. Die Spartaner waren es.«
    »Und jetzt?«
    »Jetzt ist es anders. Jetzt sind wir einfach nur Menschen. Es gibt keine Spartaner mehr.«
    Eine Zeit lang aßen sie schweigend die Hyazinthenzwiebeln. Ben sah, dass die Krähen wieder da waren, sie beobachteten sie von Graten herab und aus Spalten heraus, und ihr Krächzen erschallte zwischen

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