Verborgene Muster
Velourstapete und penetrante Sitar-Musik.
»Es schien dir aber zu schmecken«, sagte Rebus und trank sein Bier aus.
»Natürlich hat's mir geschmeckt, aber es war kein Hühnchen.«
»Wenn 's dir geschmeckt hat, gibt es keinen Grund, sich zu beschweren.« Rebus saß seitwärts auf
seinem Stuhl, die Beine weit ausgestreckt, einen Arm über die Rückenlehne gelehnt, und rauchte
seine x-te Zigarette an diesem Tag.
Morton beugte sich unsicher zu seinem Gegenüber.
»John, es gibt immer etwas, worüber man sich beschweren kann, besonders wenn man eine Chance
sieht, dann die Rechnung nicht bezahlen zu müssen.«
Er zwinkerte Rebus zu, lehnte sich zurück, rülpste und griff in die Tasche nach einer
Zigarette.
»Unsinn«, sagte er.
Rebus versuchte nachzuzählen, wie viele Zigaretten er an diesem Tag bereits geraucht hatte, aber
sein Gehirn sagte ihm, dass solche Berechnungen müßig waren.
»Ich frage mich, was unser Freund, der Mörder, im Augenblick gerade macht«, sagte er.
»Ein Curry essen?«, schlug Morton vor. »Das Problem ist, John, das könnte so ein ganz
durchschnittlicher Normalbürger sein, nach außen hin sauber, verheiratet, Kinder, ein spießiger,
strebsamer Typ, aber in Wirklichkeit ist er schlicht und einfach ein Verrückter.«
»An unserem Mann ist gar nichts schlicht und einfach.«
»Das stimmt.«
»Aber du könntest durchaus Recht haben. Du meinst doch, dass er so eine Art Jekyll und Hyde ist,
oder?«
»Genau.« Morton schnipste Asche auf die Tischplatte, die bereits mit Currysauce und Bier
bekleckert war. Dabei starrte er auf seinen leeren Teller, als ob er sich fragte, wo denn das
ganze Essen geblieben sei. »Jekyll und Hyde. Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich sag
dir was, John, ich würde solche Dreckskerle für tausend Jahre einsperren, tausend Jahre
Einzelhaft in einer Zelle, so groß wie ein Schuhkarton. Genau das würde ich tun.«
Rebus starrte auf die Velourstapete. Er dachte an seine Tage in Einzelhaft zurück, als der SAS
versuchte, ihn kleinzukriegen, Tage, an denen er bis zum Äußersten auf die Probe gestellt worden
war, Tage voller Seufzer und Schweigen, voller Hunger und Schmutz. Nein, das würde er nicht noch
einmal durchmachen wollen. Und dennoch hatten sie ihn nicht kleingekriegt, nicht wirklich
kleingekriegt. Die anderen hatten nicht soviel Glück gehabt.
Eingesperrt in einer Zelle schrie das Gesicht.
Lasst mich raus. Lasst mich raus.
Lasst mich raus...
»John? Ist alles in Ordnung? Falls du dich übergeben musst, die Toilette ist hinter der Küche.
Hör mal, wenn du da vorbeigehst, tu mir doch den Gefallen und guck mal, ob du erkennen kannst,
was die da zerhacken und in den Topf werfen...«
Gewitzt wie er war, ging Rebus mit dem übervorsichtigen Gang eines Sturzbetrunkenen zur Toilette,
doch er fühlte sich gar nicht betrunken, jedenfalls nicht so betrunken. Der Geruch von Curry,
Desinfektionsmittel und Scheiße drang ihm in die Nase. Er wusch sich das Gesicht. Nein, er würde
sich nicht übergeben. Es lag nicht am vielen Trinken, denn bei Michael hatte er den gleichen
Schauder gespürt, das gleiche momentane Grauen. Was geschah mit ihm? Es war, als ob sein Inneres
sich verhärtete, ihn langsamer werden ließ, bis die Jahre ihn schließlich einholten. Es fühlte
sich ein bisschen so an wie der Nervenzusammenbruch, auf den er schon die ganze Zeit wartete,
aber es war kein Nervenzusammenbruch. Es war nichts. Es war vorbei.
»Kann ich dich mitnehmen, John?«
»Nein, danke, ich geh zu Fuß. Da krieg ich wieder einen klaren Kopf.«
Sie trennten sich vor der Tür des Restaurants. Eine Gruppe von Leuten, offenbar Arbeitskollegen -
gelockerte Krawatten und starkes, unangenehm süßes Parfüm -, war auf dem Weg zum Bahnhof
Haymarket. Haymarket war die letzte Station auf dem Weg in die Innenstadt von Edinburgh vor dem
viel größeren Bahnhof Waverley. Rebus musste an die gängige Redensart »in Haymarket aussteigen«
denken, die für das vorzeitige Herausziehen des Penis beim Geschlechtsverkehr benutzt wurde. Da
sollte noch mal einer sagen, die Edinburgher wären humorlos. Ein Lächeln, ein Lied und eine
Strangulierung. Rebus wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er fühlte sich immer noch schwach
und hielt sich an einem Laternenpfahl fest. Er wusste so ungefähr, was es war. Sein ganzes
Inneres lehnte sich gegen die Vergangenheit auf, so als ob die lebenswichtigen Organe ein
Spenderherz abstoßen würden. Er hatte den Horror der militärischen
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