Verborgene Muster
Gedanken an die harte und furchtbare
Vergangenheit ihres Geliebten und an die Mentalität der Leute, die glaubten, dass solche Dinge
notwendig wären. Armer John. Was hätte sie an seiner Stelle getan? Sie hätte schnurstracks diese
Zelle verlassen und wäre stur weitergegangen, wie er es auch getan hatte. Und trotzdem hätte sie
sich schuldig gefühlt, ganz genau wie er, und sie hätte alles irgendwohin verdrängt, wo es seine
unsichtbaren Narben hinterlassen hätte.
Warum mussten sämtliche Männer in ihrem Leben solche komplizierten, verkorksten Typen sein, die
von ihrer Vergangenheit nicht loskamen? Zog sie solche angeknacksten Kerle an? Das hätte man ja
noch lustig finden können, aber schließlich musste man an Samantha denken, und das war überhaupt
nicht komisch. Wo fing man an zu suchen, wenn man die berühmte Stecknadel im Heuhaufen finden
wollte? Sie erinnerte sich an die Worte von Superintendent Wallace: sie haben denselben Boss wie
wir. Das war eine Tatsache, über die man mit all ihren Konsequenzen nachdenken musste. Denn wenn
sie denselben Boss hatten, dann konnte man sich vielleicht am Ende darauf einigen, die ganze
Sache zu vertuschen, zumal jetzt auch noch diese uralte, furchtbare Geschichte wieder ans
Tageslicht gekommen war. Wenn das nämlich in die Zeitungen kam, würde in allen militärischen
Bereichen die Hölle los sein. Vielleicht würden sie ein Interesse daran haben, die Sache zu
vertuschen. Vielleicht würden sie Rebus zum Schweigen bringen wollen. Mein Gott, was wäre, wenn
sie John Rebus zum Schweigen bringen wollten? Das würde bedeuten, dass sie auch Anderson zum
Schweigen bringen würden - und sie selbst. Das würde auf Bestechung hinauslaufen, oder man musste
völlig reinen Tisch machen. Sie würde sehr vorsichtig sein müssen. Ein falscher Zug konnte ihre
Entlassung aus dem Polizeidienst bedeuten, und das wäre noch nicht alles. Dennoch musste man
dafür sorgen, dass Gerechtigkeit geübt wurde. Es durfte keinerlei Vertuschung geben. Der Boss,
wer oder was auch immer sich hinter dieser anonymen Bezeichnung verbarg, würde darüber zwar nicht
besonders glücklich sein. Aber die Wahrheit musste heraus, sonst wäre die ganze Sache eine Farce
- und ihre Akteure ebenfalls.
Und wie waren ihre Gefühle für John Rebus selbst, der mitten im Scheinwerferlicht stand? Sie
wusste langsam nicht mehr, was sie glauben sollte. So absurd es auch klingen mochte, immer noch
nagte die Vorstellung an ihr, dass John irgendwie hinter dieser ganzen Sache steckte - von wegen
Reeve! -, er hatte sich die Briefe selbst geschickt, den Geliebten seiner Frau aus Eifersucht
umgebracht, und seine Tochter war jetzt irgendwo versteckt - vielleicht in diesem abgeschlossenen
Zimmer.
Doch so wie sich die Dinge zugespitzt hatten, war ihre Hypothese kaum haltbar, und gerade deshalb
dachte Gill Templer so intensiv darüber nach. Und dann verwarf sie sie, verwarf sie aus dem
einfachen Grund, dass John Rebus einmal mit ihr geschlafen hatte, einmal seine Seele vor ihr
entblößt hatte, einmal ihre Hand unter einer Krankenhausdecke gedrückt hatte. Würde ein Mann, der
etwas zu verbergen hatte, sich mit einer Polizistin einlassen? Nein, das schien völlig
undenkbar.
Damit wurde es wieder eine Möglichkeit von vielen. Gills Kopf begann zu dröhnen. Wo zum Teufel
war John? Und was, wenn Reeve ihn fand, bevor sie Reeve fanden? Wenn John Rebus wie ein
wandelndes Leuchtfeuer für seinen Feind war, war es dann nicht Wahnsinn, dass er allein unterwegs
war, wo immer er auch steckte? Natürlich war es verrückt. Es war dumm gewesen, ihn
hinausspazieren zu lassen und ihm die Gelegenheit zu geben, sich einfach in Luft aufzulösen.
Scheiße. Sie nahm den Hörer wieder auf und wählte die Nummer von seiner Wohnung.
----
XXVI
Rebus bewegte sich durch den Dschungel der Stadt, jenen Dschungel, den die Touristen nie zu
sehen bekamen, da sie zu sehr damit beschäftigt waren, die uralten goldenen Tempel zu
fotografieren, Tempel, die längst verschwunden, aber noch als Schatten erkennbar waren. Doch
dieser Dschungel rückte den Touristen erbarmungslos, aber unsichtbar näher wie eine Naturgewalt,
die Gewalt der Auflösung und Zerstörung.
Edinburgh sei ein harmloses Revier, behaupteten seine Kollegen von der Westküste gern. Versuchs
mal für eine Nacht in Partick und dann überzeug mich vom Gegenteil. Doch Rebus wusste es besser.
Er wusste, dass in Edinburgh alles nur Schein war, deshalb war es hier
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