Verbotene Lust
sich ja verlaufen, dann würde er sie ins Dorf fahren.
Sie schloss wieder die Augen. »Ich glaube nicht.« Und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Ich wollte mich nur ausruhen.«
Er stieg die Stufen hoch und setzte sich neben sie. Sofort rückte sie ein Stück von ihm ab. Wie alt mochte sie sein? Sie wirkte so zerbrechlich, so schmal undklein, dass er sie auf höchstens siebzehn oder achtzehn geschätzt hätte.
Viel zu jung jedenfalls, um frühmorgens hier allein herumzuirren.
»Ja, also … Wir wohnen hier seit gestern.«
Wieder hob sie den Kopf. »Ich geh schon, kein Problem.« Schwerfällig stand sie auf. Sie war kleiner, als er gedacht hätte, höchstens eins sechzig. Und sie trug komplett Schwarz. Ihr Kajal war verschmiert, als hätte sie geweint.
Der Regen, dachte er. Bestimmt war das der Regen.
»Tschüs«, sagte sie und nahm ihren Rucksack. Sie machte zwei zögerliche Schritte und stieg die Stufen zur Veranda herunter. Dann erst schaute sie sich zu ihm um.
Er atmete tief durch. »Kann ich irgendwas für dich tun? Dich ins Dorf fahren, oder so? Es regnet«, fügte er hinzu und merkte selbst, wie albern das klang.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht.«
Und dann fing sie plötzlich an zu weinen. Der Rucksack rutschte ihr aus der Hand und polterte dumpf auf den Holzboden der Veranda. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte herzzerreißend. André stand auf. Aber er wagte nicht, sich ihr zu nähern.
»Also … du kannst gerne noch ein bisschen hier sitzen bleiben, wenn du möchtest. Oder … wenn du magst, komm mit rein. Meine Frau macht bestimmt grad Frühstück, und sie kocht immer tollen Kaffee.«
Sie schüttelte den Kopf. Dennoch stieg sie die Stufen zur Veranda wieder hinauf. Sie schniefte, wischte sich mit dem Ärmel ihrer Jacke übers Gesicht. Ihre Mascara war verschmiert. Sie sah aus wie ein Waschbär.
Ein ziemlich verheulter Waschbär.
»Komm«, sagte er leise. »Du brauchst erst mal Kaffee und was Warmes anzuziehen. Du bist ja völlig durchgefroren.«
Widerstrebend nickte sie und folgte ihm ins Haus. Und wenn sie es warm hatte und nicht mehr aussah wie ein nasses, räudiges Kätzchen, wollte er versuchen herauszufinden, woher sie kam. Und was sie in diese verlassene Gegend geführt hatte.
* * *
Sonja stand in der Küche und goss den Kaffee von Hand auf. Sie beobachtete, wie das Wasser sich mit dem Kaffeepulver vermengte und durch den Filter rann. Das Strandhaus ihres Verlegers war ja mit einigem Komfort ausgestattet, aber eine ordentliche Kaffeemaschine gehörte nicht dazu.
Es hatte aber auch sein Gutes: Sie brauchte nicht in den Wohnraum zu gehen und André zuzusehen, wie er versuchte, irgendwas aus dem fremden Mädchen herauszubekommen.
Das Mädel war kaum älter als zwanzig. Wahrscheinlich eher jünger. Fast noch ein Kind! Sie hätte einen Fünfziger drauf gesetzt, dass das Mädchen irgendwo weggelaufen war. Das musste nicht zwingend das Elternhaus sein, sondern konnte genauso gut eine Situation sein, die sie überforderte.
Sie lauschte. Leise drangen die Stimmen herüber. Dann das Scharren eines Stuhls. André kam in die Küche. Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Kaffee?«
»Einen Moment noch.« Sie goss heißes Wasser nach. Lauschte dem Tröpfeln. »Und?«
»Sie sagt mir weder ihren Namen, noch, warum sie frühmorgens hier herumirrt. Sie möchte nur einen Kaffee und dann wieder gehen.«
»Ich hab ihre Sachen in die Waschmaschine gesteckt.«
»Sag das nicht mir!« Gereizt griff André sich eine Hefeschnecke, die Sonja gebacken hatte, und stopfte sie sich in den Mund. »Lecker.« Er kaute, schluckte. »Aber vielleicht hast du ja mehr Glück mit ihr.«
Sie ließ den Blick nicht von der Kaffeekanne. »Vielleicht will sie auch einfach wieder verschwinden. Wir sind Fremde für sie, André. Gib ihr was zu essen, warme Kleidung, dann kann sie wieder gehen.«
»Und wenn sie vermisst wird?«
»Du kannst ja bei der Polizei nachfragen, wenn du dich damit wohler fühlst«, giftete sie zurück. »Ich hab sie nicht auf der Veranda aufgegabelt und ihr einen Kaffee angeboten.«
»Sie hat geweint! Was hätte ich denn machen sollen?« Seine Stimme wurde immer lauter.
»Du könntest aufhören, hier rumzubrüllen«, zischte sie. Mit einer heftigen Bewegung knallte sie den Porzellanfilter in die Spüle und schraubte die Thermoskanne zu. Mit Kaffeekanne in der einen und dem Korb mit Hefeschnecken in der anderen Hand schob sie sich an ihm vorbei. Sie
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