Verbotene Sehnsucht
die Wangen, als sie die Bibliothek verließ und dem Butler ihre Sachen aus der Hand nahm. Vor allem die Haube sollte sie vor unerwünschten Blicken schützen. Hastig stieg sie die grauen Steinstufen hinunter, in der Seele erschüttert und blind für die Welt– und prallte gegen einen Mann, dessen kräftige Arme nach ihr griffen, um sie zu stützen.
» Bitte verzeihen Sie, Miss…«
Als sie aufschaute, stockte ihr der Atem. Eigentlich war sie überzeugt gewesen, dass es nach dem Zerwürfnis mit Clifton nicht noch schlimmer kommen konnte, aber sie hatte sich geirrt. Sie stand vor Thomas Armstrong.
» Lady Victoria?« Überrascht zog er die Brauen hoch.
» Lord Armstrong, bitte verzeihen Sie. Ich fürchte, ich war ein wenig abgelenkt.« Mehr fiel ihr nicht ein.
» Lady Victoria, ist irgendetwas nicht in Ordnung?«
» Bitte entschuldigen Sie mich. Ich fürchte, ich komme schon zu spät zur Verabredung mit meiner Mutter. Ich muss mich wirklich beeilen.« Sie sprang beinahe in die wartende Kutsche, nahm die Hilfe des Lakaien nicht an und ließ Armstrong einfach stehen. Angst keimte in ihr auf, und eine dunkle Ahnung überfiel sie, dass ihre Welt in Kürze völlig aus den Angeln gehoben würde.
16
M ama, wegen der Einladung von Tante Camille…«
Die Viscountess hob die Hand. » Dein Bruder hat bereits mit mir gesprochen.« Lady Armstrong saß an einem kleinen Schreibtisch im Morgenzimmer und schob den Brief, den sie gerade schrieb, achtlos zur Seite, als ihre älteste Tochter den Raum betrat.
» Dein Bruder scheint tatsächlich überzeugt zu sein, dass es dir ungeheuer guttun würde. Aber ich bin mir da nicht so sicher«, meinte die Viscountess.
Missy eilte zu ihr hinüber und setzte sich auf den Stuhl neben dem Schreibtisch. » Mama, ich dachte, dass vielleicht Cousine Abigail mich als Anstandsdame begleiten könnte.«
Lady Armstrongs Miene entspannte sich sofort. Missy kannte die tiefe Zuneigung, die ihre Mutter für die angeheiratete Nichte hegte, und sie wusste auch, dass die Viscountess auf Abigails Urteilsvermögen und ihre Fähigkeiten unbedingt vertraute. Falls Missy sich überhaupt Hoffnung machen durfte, ihre Mutter überzeugen zu können, dann hatte sie mit ihrer Cousine genau die richtige Person als Begleitung ausgesucht.
» Überleg doch, nächstes Jahr bin ich bestimmt schon verheiratet, und wer weiß, ob eine Reise nach Amerika dann noch möglich ist.« Manchmal staunte sie selbst, wie leicht ihr die Lügen über die Lippen kamen.
Die Mutter warf ihr einen zärtlichen Blick zu. » Es ist mir überaus wichtig, dich in Sicherheit zu wissen. Und nichts wäre mir lieber, dich so lange wie möglich in meiner Nähe zu haben. Andererseits kann ich es sehr gut verstehen, dass du auf Reisen gehen willst.«
Missy sah das Mitgefühl im Blick ihrer Mutter und begriff, dass sie ihre Gefühle für James ansprach. Rasch senkte sie den Kopf und betrachtete ihre Hände, denn sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg.
» Du hast keinen Grund, beschämt zu sein, meine Liebe. Ich war auch einmal jung und kenne die Qualen der ersten Liebe nur zu gut.« Die Stimme ihrer Mutter wirkte besänftigend wie die Wärme der Sonne auf der nackten Haut an einem schönen Sommertag. Missy erwiderte den Blick und fühlte sich vom mütterlichen Mitgefühl wenigstens etwas getröstet.
» Soll das heißen, dass du mir diese Reise erlaubst?«
Lady Armstrong nickte bedächtig. » Ja. Ich erteile dir die Erlaubnis, allerdings nur unter zwei Bedingungen. Erstens muss Cousine Abigail sich einverstanden erklären, dich zu begleiten. Zweitens muss Mr. Wendel mir persönlich versichern, dass deine Sicherheit auf dem Schiff garantiert ist. Dein Bruder gehört zu den Eignern der Schiffsbaugesellschaft, das sollte ihm ein paar Vorteile sichern.«
Missy warf sich ihrer Mutter in die Arme und drückte sie heftig.
» Danke, Mama, du wirst es nicht bereuen.«
» Das hoffe ich doch sehr, meine Liebe. Aber jetzt musst du Briefe schreiben, und zwar an Tante Camille und an Cousine Abigail. Sobald du Antwort erhalten hast, werde ich Thomas bitten, die Überfahrt zu arrangieren. Nach meiner Gesellschaft im August fährst du los und kehrst im November zurück.«
Missy umarmte ihre Mutter ein letztes Mal und stand auf. » Ich werde die Briefe noch heute schreiben und aufgeben lassen.«
Noch nie seit seinem fünften Lebensjahr hatte James das Derby verpasst. Bis zu dieser Saison. Wie abwesend fuhr er mit der Fingerspitze über den Rand
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