Verdacht auf Mord
fast unten angelangt und starrt mit offenem Mund, als wäre sie blöde.
Eigentlich ist es bis zu ihr nicht sonderlich weit, aber zwischen uns liegen die Schaukeln. Ich überlege, ob ich so schnell wie möglich in einem Bogen auf sie zulaufen und ihr gleichzeitig zurufen soll herabzuspringen. Dann kann ich sie an der Hand hinter mir her auf die Straße zerren, die ein Stück entfernt liegt.
So rechne ich mir das aus.
Also senke ich den Kopf, hole tief Luft, mache einen Satz und renne an den vier Jungen vorbei. Ich laufe um die Schaukeln herum, habe das Gefühl, den Feind auszutricksen, schaffe aber nur die halbe Strecke. Krachend fliege ich auf die Nase. Es blutet, und ich bekomme einen Augenblick lang keine Luft. Einer von ihnen hat mir ein Bein gestellt. Zwei andere werfen sich blitzschnell auf mich.
Aber sie wissen nicht, mit wem sie es zu tun haben, denke ich die ganze Zeit. Sie wissen nicht, dass ich beliebig viel ertragen kann. Dass ich es gewohnt bin einzustecken, um zu überleben.
Dass ich nicht irgendwer bin.
Der Weißhaarige dreht mich unsanft auf den Rücken, setzt sich auf meinen Brustkorb. Er drückt meine Arme nach oben über den Kopf und hält sie an den Handgelenken fest. Es tut wahnsinnig weh. Ich kann mich nicht rühren. Ich schaue in die kalten Augen des Bleichen, die ganz dicht über mir sind. Ich wage nicht einmal zu schlucken. Ich habe immer mehr Speichel im Mund und bekomme Lust, ihm ins Gesicht zu spucken. Seine eisblauen Augen funkeln böse und triumphierend. Sie sind von einem Hass erfüllt, von dem ich nicht weiß, wo er herkommt. Ich spüre nur meinen eigenen Hass.
Aber der Weißhaarige hat auch Angst. Das sieht man. Der Schweiß läuft ihm über die Stirn, und sein Haar klebt an den Ohren.Je angestrengter ich mich zu befreien versuche, desto wilder wirkt er. Als hätte auch er gelernt, dass es sich nicht lohnt aufzugeben.
Er drückt mich immer fester in den Sand. Sein Kopf ist immer noch unbehaglich nahe. Seine Oberlippe zittert. Angst überkommt ihn. Der kleine Scheißkerl hat Angst, denke ich und ramme meine Fersen in den Sand. Ich stemme mich ab und versuche, mich aus seinem Griff zu winden.
Da drückt er so fest zu, dass seine Lippen weiß werden.
Ausgeliefert höre ich, wie die anderen auf das Klettergerüst zugehen. Sie wollen Filippa herunterholen! Panik erfasst mich. Ich mache einen neuen Versuch, mich tretend und windend zu befreien. Wie ein Aal winde ich mich unter dem Gewicht des Bleichen.
Aber da kommt noch einer und setzt sich auf mich. Zwei gegen einen! Und ich bin der Kleinste. Ich habe keine Chance.
Filippa schreit nicht. Also schlagen sie sie nicht, denke ich, obwohl es mir immer schwerer fällt, klar zu denken. Mein Kopf wird schwer und kann nur noch einen einzigen Gedanken fassen: Ich muss Filippa retten.
Sie sind es bald leid, vermute ich. Alle sind es irgendwann leid. Sogar mein starker Papa. Man muss nur Geduld genug haben.
»Ich hab sie«, höre ich einen von ihnen ein Stück weit weg rufen.
Da schreit Filippa. Nicht aus vollem Hals, mehr wie ein Hund, der winselt.
»Jetzt bist du still, sonst bekommst du es mit uns zu tun«, brüllt dieselbe Stimme Filippa an. »Wir bringen sie hinters Haus«, ruft er.
Der Bleiche über mir dreht den Kopf zur Seite, um zu sehen, wo sie sie hinschleppen.
»Weißt du, was wir jetzt machen?«, fragt er dann ganz dicht über meinem Gesicht.
Ich antworte nicht, beiße die Zähne zusammen.
»Mit kleinen Schwestern von solchen wie dir machen wir, was wir wollen.«
»Schlagt sie nicht«, presse ich hervor, sehe aber sofort ein, dass das dumm war.
»Schlagt sie nicht«, äfft mich der Bleiche natürlich gleich nach. »Wir schlagen kleine Mädchen nicht, spinnst du?«
Es läuft mir immer noch aus der Nase, aber von etwas Nasenbluten stirbt man nicht, sagt Papa immer. Ich habe früher schon Nasenbluten gehabt. Mehrmals. Ich bekomme das immer, wenn ich wütend werde. Oder wenn ich Angst habe. Und jetzt hat mir außerdem noch jemand eine geschmiert.
Ich liege im Sand und kann Filippa nicht mehr hören. Ich denke, dass ihr jetzt wer weiß was passieren kann. Vielleicht verschleppen sie sie, liefern sie einem Kidnapper aus. Sie haben vielleicht kriminelle Kontakte zu Erwachsenen, die sie weiterverkaufen. Es gibt unzählige Menschenschmuggler. Und Pädophile.
Der Typ, der hinter dem Bleichen auf meinen Beinen sitzt, steht plötzlich auf, und ich verspüre einen komischen Schmerz. Das Blut läuft. Es pocht, aber ich kann
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