Verdacht auf Mord
Filippa nicht im Weg ist. Denn Mama muss selbst zu Hause bleiben, falls Papa etwas braucht, eine Tasse Kaffee zum Beispiel.
Jetzt hat sich meine kleine Schwester endlich ein Herz gefasst und ist auf den ersten Absatz geklettert. Sie steht in ihrem roten Kleid und in rosa Stoffschuhen da und winkt mir angeberisch zu. Meinetwegen, denke ich und bleibe sitzen. Ich reagiere nicht einmal auf ihr Winken. Ziehe mit meinen Turnschuhen Striche in den Sand. Ich sehe, dass sie gern weiter nach oben klettern würde, aber zu feige ist. Das lese ich in ihren Augen. Aber die Höhe und das Abenteuer sind zu verlockend, also setzt sie vorsichtig den Fuß auf die nächste Sprosse. Vielleicht wagt sie es ja doch.
Ein lauer Wind streicht durch die Bäume. Der Spielplatz liegt geschützt zwischen Büschen und einem niedrigen Holzhaus. Dort ist an Wochentagen Kinderbetreuung. Wenn es regnet, kann man sich dort unterstellen und außerdem Saft und Zimtschnecken kaufen. Daran erinnere ich mich aus der Zeit, als ich noch ganz klein war und noch nicht zur Schule ging. Jetzt gehe ich in die dritte Klasse.
Alle Türen und die grünen Fensterläden sind jetzt verschlossen. Wenn geöffnet ist, kann man Tretautos, Schubkarren, Springseile, Bälle, Eimer und Schaufeln ausleihen. Hinter dem Haus wachsen Brennnesseln. In die bin ich mal reingefallen, als ich klein war.
Ein Stück weiter ist der Friedhof. Da liegt Großvater.
Ganz plötzlich verschwinden alle Leute vom Spielplatz. Es ist Mittag, und die Väter fassen ihre Kinder an den Händen und gehen nach Hause. Nur Filippa und ich bleiben zurück. Die Schaukeln sind leer, im Sandkasten liegt noch ein Eimer und auf der Wiese ein blauer Pullover, den ein Kind vergessen hat. Niemand ist mehr da, zu dem Filippa hochklettern könnte. Das Mädchen in der gelben Regenjacke ist auch weg.
Es ist immer fies, der Letzte zu sein. Genau wie diese vergessenen Sachen. Ich bin hungrig und träume davon, mich an einen gedeckten Tisch zu setzen, wage es aber nicht, nach Hause zu gehen. Die Sonne brennt heiß. Das macht alles noch schlimmer. Man wird ganz müde davon.
Mama hat versprochen, uns abzuholen. Wann genau, weiß ich nicht. Das weiß sie vermutlich selbst nicht. Sie wagt es nie, eine Zeit zu nennen, obwohl ich eine Uhr besitze und die Zeiten richtig gut kann.
»Das hängt ganz davon ab«, sagt sie.
Es hängt immer davon ab, denke ich.
Der Spielplatz ist trotzdem der beste Platz, um sich mit Filippa die Zeit zu vertreiben. Wo sollten wir sonst auch hin? Es ist langweilig, einfach nur herumzulaufen. Ich entscheide mich also dafür zu bleiben, obwohl es hier nicht sonderlich aufregend ist.
Ich werfe lustlos ein paar Stöckchen, stehe auf und trete nach dem Plastikfußball, den jemand vergessen hat, und er fliegt Richtung Friedhof, aber ich habe keine Lust hinterherzulaufen. Filippa klettert langsam das Klettergerüst herunter. Die Zeit vergeht im Schneckentempo. Jetzt habe ich nicht nur Hunger, sondern auch Durst.
Da kommen sie.
Vier Stück. Sie sind mindestens drei oder vier Jahre älter als ich. Der Wind pfeift durch die Speichen ihrer Fahrräder. Sie bremsen, und der Sand fliegt hinter ihren Reifen auf. Sie springen vom Sattel, werfen die Fahrräder auf die Erde und setzen sich auf die Schaukeln. Aber sie schaukeln nicht, sondern sitzen einfach da.
Wie eine Mauer.
Sie starren mich an.
Eiseskälte erfüllt meinen Körper. Mir wird klar, dass ich Filippa vom Klettergerüst herunterbekommen muss. Wir müssen verschwinden.
»Du musst also Kinder hüten«, sagt ein Junge mit so blonden Haaren, dass sie fast weiß aussehen. Er trägt Ketten, die ihm über seine Jeans hängen, und er grinst mich kalt an und schaut dann auf seine Freunde, ob sie ihn auch ausreichend bewundern. »Wie viel bekommst du dafür?«
Sein Grinsen wird noch breiter. Das Grinsen eines Wolfs.
Auch der Junge neben ihm macht eine bedrohliche Miene. Sein Kopf ist rasiert und wirkt besonders groß, weil der Junge so mager ist. Seine Kleider hängen lose herunter. Sein Kopf wirkt wie ein weißer Champignon, die Stoppeln sind nur als Schatten zu sehen.
Ich sitze auf meiner Bank und wünsche ihnen die Krätze an den Hals. Das macht mich mutiger, aber ich weiß, dass es ratsam ist, den Mund zu halten. Meine Lippen sind wie zugeklebt. Was auch immer ich sagen würde, sie würden über mich herfallen.
Das Gesetz der Wildnis ist simpel. Das weiß jedes Kind.
Ich zwinge mich dazu, den Abstand zu Filippa abzuschätzen. Sie ist jetzt
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