Verdacht auf Mord
radelte. Kerstin Malm stand am Fenster und sah ihm hinterher. Er wird klatschnass, dachte sie.
In der Hand hielt sie den Zettel mit der Zahlenfolge, den er ihr gegeben hatte. Eine Kopie. Die Zahlen sagten ihr nichts. Aber wer ließ sich nicht vom Geheimnis der Zahlen in den Bann ziehen? Sie blieb im Gewitterlicht stehen und dachte über die Zahlen nach. Sie schienen eilig hingekritzelt worden zu sein, etwas nach rechts geneigt, die Zweien mit nicht ganz vollständigem Bogen und die Dreien so nachlässig, dass sie der einzigen Fünf ähnelten.
Hatte Bodén eine Geliebte gehabt? Er wäre nicht der Erste gewesen. Sie hatte die vage und möglicherweise nicht ganz gerechtfertigte Vorstellung, dass die meisten verheirateten Männer mittleren Alters nach rechts und links schauten. Sie wussten nicht recht, wo sie hingehörten, oder hatten zumindest das Bedürfnis, noch einige weitere Umarmungen auszuprobieren. Vielleicht als letzte Reise, bevor man gänzlich zum Alteisen gehörte. So entsprach es jedenfalls ihrer eigenen bitteren Erfahrung, von der sie niemand anderem erzählen wollte. Denn für keinen der Beteiligten waren solche Affären etwas, womit man angeben wollte. Sie hatte geschwiegen wie ein Grab.
Diese Geschichten kamen ihrer Meinung nach früher oder später sowieso ans Tageslicht. In einer vergleichsweise kleinen Stadt wie dieser ließen sich nur sehr wenige Geheimnisse bewahren. Und nie hatte sie auch nur das Geringste über Bodén und eventuelle Mätressen gehört.
Sie konnte es trotzdem nicht lassen, darüber nachzudenken. Sie blieb stehen, obwohl sie den Zettel weglegen und mit ihrem Tagewerk beginnen hätte sollen. Die Post öffnen und die Mails anschauen. Als wollte ich etwas wiedergutmachen, dachte sie und ging langsam um ihren halbrunden Schreibtisch herum.
Es war so dunkel geworden, als wäre bereits Abend. Sie machte jedoch kein Licht, sondern verweilte in der Dunkelheit. Endlich donnerte es drei Mal lange. Sie wartete auf den Blitz. Langsam ließ sie sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken, als wollte sie den Aufruhr des Himmelsgewölbes nicht stören. Auf ihrem Computermonitor funkelte die Ostsee bei Sonnenaufgang. Sie hatte das Foto selbst an einem schönen Sommermorgen aufgenommen, als sie mit dem Boot zur Blå Jungfru unterwegs gewesen waren, der sagenumwobenen Insel am nördlichen Ende des Kalmarsunds. Die Insel, ein Halbrund aus Granit, unterbrach als einzige Erhebung den Horizont. Die Nordspitze Ölands war nicht zu sehen, aber sie wusste, wo sie lag, noch etwas weiter. An diesem Morgen war sie zufrieden gewesen. Sie hatte die Kapuze hochgeklappt, denn der Wind war kalt gewesen. Der Tag war dann warm geworden, und ihr Mann und sie hatten auf ein paar warmen Felsen gepicknickt. Vielleicht war sie sogar glücklich gewesen. Wie undramatisch und einfach das Leben doch manchmal sein konnte. Mittlerweile versuchte sie, alle derartigen Momente in ihrem Gedächtnis aufzubewahren. Denn auf das Licht folgt Dunkel, dachte sie wehmütig. Die Zeit danach war sehr schwer gewesen.
Sie stützte ihren Kopf auf und betrachtete das Schauspiel vor dem Fenster. Lila Wolken vor einem gewitterschwarzen Hintergrund sowie Wolkenfetzen, die wie Trauerflor einen hellblauen Riss in der Wolkendecke umrahmten. Kontraste und donnernde Dramatik, die ihrem bereits angestrengten Gewissen noch weiter zusetzten.
Da blitzte es dreimal hintereinander blendend hell auf. Sie kniff die Augen zu, um sich nicht dem grellen Licht auszusetzen, und beeilte sich, ihren Computer auszuschalten. Jetzt peitschte der Regen gegen die Fensterscheiben, sodass man kaum noch nach draußen sehen konnte.
Sie dachte an den Kommissar. Hoffentlich hatte er sich irgendwo unterstellen können, was aber nicht sehr wahrscheinlich wirkte. Bis zum Präsidium war er sicher nicht gekommen.
Sie sprach leise mit sich selbst. Versuchte, vernünftig zu argumentieren. Es war belastend, ein gewissenhafter Mensch zu sein.
Sie hatte doch wohl nichts Unpassendes gesagt? Etwas, was sich missverstehen ließ?
Aber die Schuldgefühle darüber, sich überhaupt über einen anderen Menschen geäußert zu haben, verursachten ihr Magenschmerzen. Und das, obwohl sie sehr viel gar nicht erzählt hatte.
Ein Wald mit Pilzen.
Dorthin wollte sie. Die Sehnsucht war so stark, dass sie einen Augenblick lang das Gefühl hatte, auf den weichen Tannennadeln eines Pfads zu stehen, der sich durch den Schatten schlängelte. Sie stieg über Baumwurzeln. Auf einer Lichtung, die
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