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Verdacht auf Mord

Verdacht auf Mord

Titel: Verdacht auf Mord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wahlberg
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wie alle anderen. Man konnte schließlich nicht ständig Vollgas geben. Zu Hause ging sie nur im Kreis. Aber jetzt saß sie in dem kleinen Dienstwagen der Pflegezentrale und klammerte sich an das Lenkrad. Sie blickte geradeaus auf die Straße, denn sie wollte weder Dachs noch Reh überfahren. Und noch weniger mit einem Elch zusammenstoßen.
    Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie wurde von Schluchzern geschüttelt. Sie hatte vor, bis zur Beerdigung durchzuhalten, dann würde sie weitersehen.
    Sie fühlte sich wie ein entwurzelter Baum. Und im Wurzelloch wimmelte es von Ungeziefer. Dagegen konnte sie nichts machen. Die Trauer besaß keine Struktur. Sie war abwechselnd schwarz, heftig und zärtlich. Außer den Erinnerungen bot die Vergangenheit nicht viel Verlässliches. Sie hatte sich ohne weiteres täuschen lassen und sich bestens selbst betrogen.
    Aber die Erinnerungen waren heimtückisch. Einige waren beständig, andere entglitten ihr. Und nicht nur die schönen Stunden des Lebens kehrten wieder.
    Sie schnäuzte sich, trocknete die Wangen und betrat pflichtbewusst das Haus. Sie hörte das Ticken der Uhr bereits in der Diele. Es war eine dieser Wanduhren, die immer mehr von elektrischen oder batteriebetriebenen verdrängt worden waren. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Hier kannte sie sich aus. Niemand mischte sich ein, und nur selten beklagte sich jemand. Der Alte freute sich, sie zu sehen. Fast wäre er wieder in Tränen ausgebrochen. Mit seiner breiten, gekrümmten Hand winkte er ihr vom Sofa aus zu. Bei den Alten wuchsen Hände und Nase.
    »Es ist nicht leicht, ihm auf die Beine zu helfen«, sagte seine Frau und näherte sich ihr ihrer verschlissenen Hüften wegen auf zwei Krücken gestützt.
    »Und ich liege hier auf dem Sofa wie ein Stück Brennholz«, scherzte der Alte.
    Vermutlich liegt er da und schaut durch die Stores auf den Himmel, dachte sie.
    »Haben Sie es aber gut«, erwiderte sie mit ihrer fröhlichen Stimme. Sie wechselte den Verband an den Beinen des alten Mannes und kontrollierte, dass beide ihre Medikamente genommen hatten.
    Hätten das Jan und sie in einer unbekannten Zukunft sein können? Sie lachte plötzlich unangemessen laut, aber da saß sie schon wieder allein in ihrem Wagen und war auf dem Weg in die Pflegezentrale. Sie fuhr auf dem Björnfällevägen in südlicher Richtung. Pferde grasten auf großen Weiden am Waldrand. Jedes Jahr wurden es mehr. So gesehen, lebten die Dörfer noch. Vermutlich hatten alle Kinder so lange gequengelt, bis sie so ein armes Pony bekommen hatten, das ihnen dann rasch verleidet war und nun auf der Weide hinter dem Haus herumstand. Sie waren einfach verwöhnt.
    Es war vier Uhr. Im Wald war es bereits finster, aber es war diese samtweiche Dunkelheit, die sie so mochte. Dieses Jahr hatte sie keine Pilze gesammelt. Und auch keine Beeren. Überhaupt nichts.
    Sie hatte sich an Jan festgeklammert wie eine Ertrinkende am Rettungsring. Das hatte Kräfte gekostet. So etwas kostete immer Kräfte. Sie war feige. Sie wünschte sich, sie wäre wagemutiger, selbstständiger gewesen. Und dass sie sich nicht so viele Gedanken über das Geld gemacht und solche Angst gehabt hätte, zu irgendeinem Fest nicht eingeladen zu werden. Sie war einfach töricht gewesen. Zu welchen Festen sie wohl noch eingeladen werden würde, wenn sich nach dem Begräbnis herausstellte, was sie selbst hinter dem Rücken des armen Jan getrieben hatte.
    Sie musste grinsen.
    Am Vorabend hatte sie nicht einschlafen können. Sie war aufgestanden und hatte sich ans Wohnzimmerfenster gestellt, hatte Eva-Lenas Beete betrachtet. Akkurat und langweilig. Hauptsächlich Rosen, die allerdings noch blühten, und nicht das geringste Unkraut.
    Ich muss hier weg, hatte sie gedacht. Unbedingt!
    Anschließend war sie eingeschlafen.
    Keinesfalls würde sie in diesem großen Haus bleiben und abwarten. Sie würde es verkaufen, das Sommerhaus aber behalten. Sie würde kündigen und wegziehen. Davon hatte sie den Kindern aber noch nichts gesagt. Sie würden entsetzt sein, besonders Martin. Furchtbar, wie der sich in letzter Zeit anstellte. Als hätte er Jans Nachfolge angetreten. Aber das würde sie sich wahrhaftig nicht bieten lassen!
    Als sie den nördlichen Ortsrand erreicht hatte, waren die Tränen versiegt. Sie befand sich in einem Zustand, der sich als höchst flüchtige Harmonie hätte beschreiben lassen. Ihre eigene Unvollkommenheit war somit erträglich. Jan hatte es offenbar gemerkt, dachte sie. Begriffen,

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