Verdacht auf Mord
er die allein stehende werdende Mutter auf der Entbindungsstation beruhigt hatte, dachte sie und schaute in den Spiegel. Oder als er dieser umständlichen und nervigen Patientin zuhörte. Fast eine Stunde lang hatte er in einem Behandlungsraum gesessen und die Depressionen dieser Frau über sich ergehen lassen. Vermutlich hatte sie es nötig gehabt. Und es war das Einzige, was Stjärne wirklich beizutragen hatte. Darin war er gut, das musste sie zugeben. Die meisten wären schon viel früher aus der Haut gefahren.
Sie nahm die Treppe und merkte, dass sie ihren Piepser im OP vergessen hatte. Da war sie bereits in der Eingangshalle. Sie rannte zurück und wäre beinahe mit einem Mann zusammengestoßen, der ihr auf der Treppe entgegenkam. Sie bat eine der OP-Schwestern, ihr den Piepser aus dem OP zu holen, und eilte dann wieder die Treppe hinunter.
Derselbe Mann, der ihr auf der Treppe begegnet war, stand jetzt vor der verschlossenen Tür der Entbindungsstation. Etwas bejahrt für einen werdenden Vater. Aber man konnte nie wissen. Vielleicht handelte es sich auch um einen Großvater.
»Entschuldigen Sie«, sagte er freundlich. Sein zerfurchtes Gesicht erinnerte sie an das eines Bluthunds.
»Ich suche einen Arzt namens Gustav Stjärne. Er arbeitet wohl auf der Entbindungsstation. Könnten Sie vielleicht so freundlich sein, ihn zu holen?«
Ehe sie noch fragen konnte, um was es gehe, fuhr er fort: »Ich bin Kriminalinspektor Gillis Jensen. Ich habe nur ein paar kurze Fragen.«
Cecilia stand am Fenster. Sie hatte sich gewaschen, die Zähne geputzt und halb angekleidet. Ihre lange Hose hatte sie fast ohne Hilfe angezogen, und dafür hatte sie die Ergotherapeutin gelobt. Einen BH hatte sie ebenfalls angezogen, was fast an ein Wunder grenzte. Das war nicht leicht, deshalb hatte sie sich helfen lassen. Über die Schultern und mit den Haken. Die Ergotherapeutin hatte ihr gesagt, sie solle stehen bleiben und sich nicht hinlegen, auch wenn das Bett verlockend wirkte. Oder der Stuhl.
»Ich weiß, dass du müde bist«, sagte die Ergotherapeutin, »aber halte durch!«
Sie war in Orup. Früher hatte hier einmal ein Sanatorium gelegen. Aber ihr war das gleichgültig. Sie war hier und würde offenbar eine Weile bleiben. Rehabilitation. Das Wort war so lang, dass sie kaum die Kraft hatte, es auch nur zu denken. Der ganze Umzug hatte irgendwie ohne ihr Zutun stattgefunden. Das machte ihr eigentlich nichts aus. Sie war froh, dass ihr Entscheidungen erspart blieben.
»Hör mal! Was musst du jetzt noch anziehen?«
Die Ergotherapeutin hieß Elke. Sie war nett. Und stur. Das war sicher gut. Cecilias Blick ließ von den Bäumen vor dem Fenster ab. Grüne Blätter und vereinzelte gelbe, die vom Wind gepeitscht wurden. Der Himmel war kaltblau. Sie wohnte weit oben, und die Klinik lag auf einem Berg. Weit unten befand sich der Ringsjön. Das Zimmer besaß hellgrüne Wände. Das beruhige die Nerven, hatte jemand gesagt. Vermutlich war es die Pflegehelferin gewesen. Auch egal.
Irgendetwas musste sie jetzt tun. Was hatte die Ergotherapeutin schon wieder gesagt? Plötzlich fehlte ihr jegliche Erinnerung. War einfach nur wahnsinnig müde. Wollte sich nur hinlegen. Sie hatte nicht einmal die Kraft, um zu antworten.
Ihre Augen blieben an der Frau hängen, die sie eigentlich nicht kannte. Sie hatte sich daran gewöhnt, von fremden Personen umgeben zu sein, die sich an ihr und ihren Sachen zu schaffen machten. Sie hochhoben, zurechtsetzten und hin und her bewegten.
Sie hatte aufgegeben. Ließ sie gewähren.
Guter Dinge, um die fünfzig, lange Hosen und ein blau kariertes Hemd. Sie betrachtete sie weiterhin.
Sie mochte diese Ergotherapeutin sehr. Aber ihr fehlte einfach die Kraft zu antworten. Sie vermochte nicht einmal zu lächeln. Wie hieß sie jetzt noch gleich? Eben hatte sie es doch noch gewusst. Sie starrte auf das Namensschild an der Hemdtasche.
»E-l-k-e«, buchstabierte sie laut.
»Ja, das bin ich.« Die Frau lächelte aufmunternd und geduldig. »Was wolltest du jetzt machen? Erinnerst du dich?«
Cecilia sah sie mit leerem Blick an.
»Erinnerst du dich?«, wiederholte die Frau in dem blau gemusterten Hemd, die Elke hieß.
Das Hemd war schön.
Aber was sollte sie tun? Mein Gott! Sie suchte in ihrem Kopf. Vollkommen leer.
Was nur?
»Schau dich an«, sagte Elke immer noch mit demselben Eifer.
Langsam beugte sie den Kopf nach vorne. Unter ihren Jeans sahen gelbe Turnschuhe hervor.
»Weiter oben!«
Beine in Jeans. Zwei Stück.
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