Verdacht auf Mord
sie immer unverzüglich beglichen.
Sie hatte sich neben ihn auf die Bank gesetzt und sich wieder einmal darüber gewundert, dass es solch grenzenlose Gefühle geben konnte, ein Sprudeln und Prickeln in ihrem Inneren, obwohl sie nicht mehr jung war. Von ihrer Bank aus hatten sie das ganze Meer jenseits des Parkplatzes und der Häuserdächer sehen können. Sie hätten ewig einfach so dasitzen können, wenn nicht ein Unwetter aufgezogen wäre. Die Wolken über der Ostsee waren tiefschwarz gewesen, eine nicht ungewöhnliche Erscheinung, wenn die Insel stark erwärmt war. Ein Wolkenbruch hatte sie dazu gezwungen, ins Restaurant Brinken zu fliehen. Die Einrichtung war noch echt Sechzigerjahre, nicht retro wie in Stockholm. Es war stickig gewesen, da fast alle Plätze besetzt gewesen waren. Er hatte Gulasch und sie Flunder bestellt. Die meisten Gäste waren keine Touristen gewesen, sondern Leute aus den Büros in der Nähe oder Handwerker. Ein einziger Tisch war noch frei gewesen.
Ihre Hände hatten sich auf der Tischplatte berührt. Dass Hände so warm sein konnten, so sinnlich, und dass sie so genau verstanden, was sie zu tun hatten! Er hatte ihr sanft mit den Fingerspitzen über die Handfläche gestrichen, über die Lebenslinie bis hin zu der empfindlichen Haut an der Innenseite ihres Unterarms. Trotzdem hatte sie sich mitten in dem zunehmenden Wohlgefühl schuldig gefühlt. Sie hatte sich gewünscht, ihr Leben wäre einfacher und reiner und verliefe in deutlicheren Bahnen.
Da hatte ihr Pierre vom »Lachs« erzählt. Wieso er das getan hatte, hatte sie erst anschließend verstanden. Irgendwie war es falsch rübergekommen, obwohl sie gewusst hatte, dass Jan kein Unschuldslamm war. Die distanzierte und zynische Oberfläche, oft mit Humor durchmischt, besaß natürlich eine schmutzige Rückseite. Aber wie schlimm es war, hatte sie nicht gewusst. Seine Eltern waren die personifizierte Ehrbarkeit gewesen. Fast schon auf übertriebene Weise.
»Es kam nie raus, was sich eigentlich zugetragen hat«, hatte Pierre gesagt, und seine Augen hinter der Brille hatten sehr sachlich gewirkt. »Sie haben den ›Lachs‹ tot im Keller gefunden. Er war damals sechzehn. Der Einzige, von dem man mit Sicherheit wusste, dass er sich im Keller befunden hatte, war sein Bruder. Und die waren immer wie Hund und Katze gewesen.«
»Er wurde also verurteilt.«
Pierre hatte genickt und war ihrem Blick nicht ausgewichen.
»Aber er war zu jung fürs Gefängnis und kam in ein Erziehungsheim.«
»Ach. Weißt du, was dann aus ihm geworden ist?«
Sie fand es immer furchtbar, wenn Leute schon in jungen Jahren auf die schiefe Bahn gerieten.
»Nein. Aber man weiß ja, wie das zu gehen pflegt.«
Er hatte recht wichtigtuerisch gewirkt, als er das gesagt hatte. Wie ein Gott, der Lebende und Tote verurteilen konnte. Sie hatte sich die Geschichte angehört und war doch recht ratlos gewesen. Warum hatte er sie ihr erzählt?
Pierre hatte ihre Gedanken vermutlich erraten, denn er hatte sich vorgebeugt und noch leiser weitergesprochen.
»Jan war in die Sache verwickelt«, hatte er geflüstert.
»Davon hat er nie erzählt«, hatte sie abgewehrt.
Das Gefühl, etwas über ihren Ehemann zu erfahren, das sie bereits hätte wissen sollen, hatte ihr Unbehagen bereitet. Sie stand ihm doch wohl am nächsten.
»Nicht?«
Er hatte ihr einen prüfenden Blick zugeworfen. Aus unerklärlichem Grund hatte sie sich mithilfe eines Lächelns gewehrt, was er als Ermunterung auffasste.
»Jemand hatte Jan in das Haus gehen sehen. Aber bei näherem Nachsinnen – und zwar viel später – hatte ihn niemand herauskommen sehen. Der ›Lachs‹ war sein bester Freund gewesen. Niemand glaubte, dass er es gewesen sein könnte.«
Sie hatte gespürt, wie ihre Zweifel zunahmen. Gleichzeitig hatte sie die Wahrheit erfahren wollen.
»Aber wo ist er dann hin?«
»Niemand weiß das. Er hat sich vielleicht oben im Haus versteckt. Das war jedenfalls die Theorie eines der Polizisten. Aber damals gab es noch keine DNA-Tests und so. Niemand suchte anfänglich weiter oben im Haus. Jan soll plötzlich in der Diele gestanden und nach dem ›Lachs‹ gefragt haben. Wahrscheinlich glaubten alle, er sei von draußen gekommen, aber niemand hatte ihn klopfen hören. Danach herrschte dann komplettes Chaos, als man den ›Lachs‹ tot auffand. Man glaubte, er hätte einen Stein auf den Kopf bekommen.«
»Einen Stein?«
»Ja, das glaubte man. Auf dem Nachbargrundstück wurde gebaut. Die Mordwaffe
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