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Verdacht auf Mord

Verdacht auf Mord

Titel: Verdacht auf Mord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wahlberg
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schwarze Umhängetasche, in der seine Sachen zum Übernachten lagen, hinter einen Stuhl auf dem Korridor, um sie nicht mitschleppen zu müssen. Selbst wenn sie jemand klaute, war es ihm egal. Sie enthielt nichts Wertvolles. Sein Verhältnis zu materiellen Dingen hatte sich verändert. Sie waren ihm nicht mehr so wichtig, und er fühlte sich freier.
    Es war immer noch warm. Eine herrliche Jahreszeit. Eigentlich hätte er in Hemdsärmeln herumlaufen können, aber in seiner Jackentasche lagen Dinge, die er dann doch nicht missen wollte. Hausschlüssel, Brieftasche und eine Sonnenbrille. Das klassische Pilotenmodell von Ray-Ban, das er für teures Geld vor vielen Jahren erstanden hatte.
    Und dann natürlich das Pflanzenbuch in Farbe.
    Er hatte es aus purer Sentimentalität mitgeschleppt, es einfach nicht bleiben lassen können. Es vermittelte ihm auf eine vielleicht lächerliche Art das Gefühl, ein Leben gelebt zu haben. Vielleicht sogar gelegentlich ein gutes Leben. Das gab ihm Geborgenheit.
    Er hatte das Buch von seiner Mutter zu seinem zehnten Geburtstag bekommen. Er konnte sich nicht erinnern, ob er sich damals gefreut hatte. Heutzutage würden sich Kinder vermutlich über ein Pflanzenbuch kaputtlachen. Er konnte sich auch nicht daran erinnern, ob er noch weitere Geschenke erhalten hatte, Spielsachen, weniger ernsthafte Dinge.
    Das Pflanzenbuch hatte ihn sein ganzes Leben lang begleitet. In seiner Kindheit hatten alle Schüler noch Herbarien angelegt, Pflanzen gepresst, die sie in den Sommerferien gesammelt hatten. Im Nachhinein klang das aufregender, als es in Wirklichkeit gewesen war. Für ihn war es eine Hausaufgabe über die Sommerferien gewesen, die er so lange vor sich hergeschoben hatte, bis alles verblüht gewesen war. Er hatte sich bei einer fleißigen Mitschülerin ein paar eher langweilige Pflanzen erbetteln müssen, die diese zufälligerweise übrig hatte. Auf dem Deckel des Pflanzenbuchs war ein dunkelbrauner, daumenabdruckgroßer Fleck. Er erinnerte sich daran, wie ihn ein Mitschüler mit dem Spitznamen Lachs im Siebenmeilenwald geschubst hatte. Sein Kakao war aus dem Becher geschwappt. Die ganze Klasse hatte mit Gummistiefeln im Moos gesessen. Er hatte eine Heidenangst gehabt, seine Mutter könnte den Fleck entdecken, ein trauriges Gesicht machen, mit ihren abgearbeiteten Händen über den Einband streichen und ihn vorwurfsvoll ansehen. Er hätte sich schuldig gefühlt, weil er nicht dankbar genug gewesen war. Er wäre kein artiger Sohn gewesen, weil er mit den Dingen, die man ihm geschenkt hatte, nicht sorgsam genug umgegangen war. Das Buch war natürlich teuer gewesen.
    Ein kühler Wind wehte um den Südflügel des massiven Gebäudes. Er ging die Treppen hinunter, über den asphaltierten Wendeplatz aufs Entree des Zentralblocks zu, das in einer dunklen und feuchten Senke lag. Er sah einen Mann, dessen Gesicht teilweise blauviolett verfärbt war, und fühlte sich mit einem Mal ganz elend. Ihm wurde jetzt klar, was ihm möglicherweise bevorstand. Ein entstelltes Gesicht ließ sich schlecht mit seiner täglichen Arbeit vor versammelter Klasse vereinbaren. Es würde schwierig sein, die Schüler im Zaum zu halten. War es nicht schon schlimm genug, dass er schlecht hörte? Würde er jetzt auch noch Frührentner werden? Das wollte er nicht, obwohl es in letzter Zeit manchmal anstrengend gewesen war.
    Er dachte an das vergangene Frühjahr zurück. Die Sonne hatte heiß durch das Fenster des Klassenzimmers geschienen. Die Schüler hatten halb auf den Bänken gelegen und still vor sich hin gerechnet. Es waren nur die Geräusche der Stühle und Stifte zu hören gewesen. Er hatte am Lehrerpult gesessen, Physikklausuren korrigiert und war zufrieden gewesen, weil er die Zeit so gut nutzen konnte. Vielleicht war er auch ein wenig schläfrig geworden.
    Plötzlich war die Tür aufgerissen worden, und Anni war eingetreten und hoch erhobenen Hauptes am Pult vorbei zur letzten Bankreihe marschiert. Sie war also doch noch gekommen. Er hatte gehofft, dass sie dem Unterricht fernbleiben würde. Anni war die Einzige, die er nicht im Griff hatte. Eigentlich hätte sie gar nicht in dieser Klasse sein dürfen. Man hätte sie wer weiß wohin schicken sollen, in seiner Klasse hatte sie jedenfalls nichts zu suchen. Sie war an sich begabt, aber ihre Faulheit hatte etwas Destruktives.
    Alle hatten ihre geröteten Köpfe gehoben und waren Anni mit den Blicken gefolgt. Die Arbeitsruhe war wie weggeblasen gewesen. Alle waren sie Teil

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