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Verdacht auf Mord

Verdacht auf Mord

Titel: Verdacht auf Mord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wahlberg
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eines Schauspiels geworden, bestehend aus Bodéns fruchtlosem und dummem Versuch, die konzentrierte Stille wiederherzustellen, und Annis dringendem Bedürfnis, im Mittelpunkt zu stehen, wahrgenommen zu werden.
    »Wo warst du?«, hatte er gefragt und dabei versucht, streng und energisch auszusehen. Und er hatte ihre Stimme gehört, diesen nasalen Stockholmer Dialekt. Aber er hatte die Worte nicht verstanden. Die Laute waren nicht zu ihm vorgedrungen. Stumm hatte er in die rabenschwarz umrahmten Augen ganz hinten im Klassenzimmer gestarrt. In Augen, die ihn nicht losgelassen, sondern an der Tafel festgenagelt hatten.
    Genauer gesagt, hatten sie ihn aufgespießt.
    Er hatte seine Korrekturen fortgesetzt. Ruhig und beherrscht hatte er die Seiten umgeblättert. Aber offenbar hatte Anni etwas gesagt, das eine Antwort erforderte, eine sarkastische Erwiderung. Die Köpfe waren ihm immer noch zugewandt gewesen. Er hatte diese Blicke gekannt. Die Erwartung, die wie Feuer brannte. Sie hatten die Wirkung abgewartet. Und seine säuerliche, vernichtende Antwort. Den Angriff, der Anni plattmachen und zähmen würde. So hatte ihr ungeschriebener Vertrag ausgesehen. Denn hier geht es um Klassenzimmer-Entertainment, hatte er müde gedacht und sie gerade dazu auffordern wollen weiterzurechnen, die Stunde sei noch nicht vorbei, als es irgendwo aus einer der hinteren Bankreihen geschallt hatte: »Du bist ja auch nur so ein blöder alter Knacker!«
    Das hatte gesessen wie ein Peitschenhieb. Er hatte den Mund geöffnet und etwas entgegnen wollen, rasch und gnadenlos.
    Aber wer war es gewesen?
    Wer hatte ihm, plötzlich übermütig, diese Respektlosigkeit ins Gesicht geschleudert?
    Er wusste es immer noch nicht, aber sein Verdacht ging in eine bestimmte Richtung. Inzwischen war es ja auch egal. Die Schüler hatten jedoch nicht gewusst, dass er seit langem einen wohl erprobten Trick kannte, wie man sich wieder Respekt verschaffte. Wie man sich rächte, um es mit aller Deutlichkeit zu sagen.
    Mit einer gewissen Genugtuung hatte er einfach etwas schlechtere Noten als geplant gegeben. Und zwar in zwei Fächern. Das traf zwar manchmal die Falschen, aber wer konnte schon behaupten, das Leben sei gerecht?
    Genau das hatte er zu dem jungen Schüler gesagt, der mit hochroten Wangen und eisigem Blick am letzten Schultag an ihn herangetreten war.
    »Das beeinflusst meine ganze Zukunft«, hatte der Jüngling gerufen und hasserfüllt mit einem braunen Umschlag vor seiner Nase herumgefuchtelt.
    Hochmut kommt vor dem Fall, hatte Bodén gedacht, ohne eine Miene zu verziehen. Man soll nicht glauben, dass alles immer so leicht geht.
    Jetzt stand er in der riesigen Eingangshalle des Zentralblocks. Sein Herz schlug schneller. Immer dieses Unbehagen, das ihn jeweils dann überwältigte, wenn er es am allerwenigsten gebrauchen konnte. Und dann diese Hitzewallungen.
    Eine halbseitige Gesichtslähmung lässt sich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen.
    Er fasste sich an die Wange.
    Im Übrigen vollkommen gesund? Also einmal abgesehen von dem Tumor.
    Professor Mogren hatte ihm kürzlich diese Frage gestellt, und wie ein aufmerksamer Knabe hatte er rasch geantwortet: »Natürlich. Vollkommen gesund.«
    Aber stimmte das überhaupt? Musste er sein Herz nicht untersuchen lassen? Ehe sie anfingen, an ihm herumzuschnippeln?
    Wallungen brandeten in ihm auf, sein Herzschlag dröhnte, ihm wurde schwindlig, er musste sich hinsetzen, sein Blick suchte nach einem Stuhl, überall sah er Bänke, aber auf allen schienen übergewichtige Leute zu sitzen. Erlitt er gerade einen Herzinfarkt? Schließlich war alles extrem anstrengend gewesen. Er verspürte einen brennenden Schmerz in seiner Brust, versuchte seine Atmung unter Kontrolle zu bringen, stand mitten im Gedränge, hätte sich eigentlich an die Wand lehnen sollen, konnte sich aber kaum vom Fleck bewegen. Ein junger Mann kam mit wehendem weißen Arztkittel auf ihn zu. Ein Glück! Bodén machte ein paar unbeholfene Schritte auf den Arztkittel zu.
    »Wo ist die Notaufnahme?«, brachte er mit Mühe über die Lippen. Der Mann kam ihm irgendwie bekannt vor.
    »Hinter dem Zentralblock. Sie müssen um das ganze Gebäude herumgehen«, sagte der Weißbekittelte und machte eine weit ausholende Armbewegung.
    Bodén sah ein, dass dies kein kurzer Spaziergang sein würde. Eine in seiner Lage unvorstellbare Entfernung. Seine Panik nahm zu. Der Arzt hielt eine Tüte vom Kiosk in der Hand und schien es eilig zu haben.

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