Verdacht auf Mord
sich der Bedeutung seiner älteren Schwester für ihn immer bewusst gewesen. Inzwischen erlaubte er es sich sogar, sie zu bewundern. Sie führte ein aktives Leben: Sie war Personalchefin, hatte vier Söhne und einen etwas weltfremden Ehemann. Aber auf wundersame Weise bewältigte sie alles, ohne ihre gute Laune zu verlieren. Vielleicht lag das auch daran, dass sie ein angeborenes stabiles Naturell besaß.
Es war immer lustig, seine Schwester in ihrem Haus in Stockholm, einem wahren Hexenkessel, zu besuchen. Ihm war auch bewusst, dass Gunilla an seiner Vorliebe für sogenannte selbstständige Frauen schuld war und vielleicht auch an seinem lächerlichen Stolz darüber, inzwischen ebenfalls ein großes Haus voller Leben zu besitzen.
Bei näherem Nachdenken hätte er es mit einer Frau, die nicht auf eigenen Beinen stand, nicht ausgehalten. In seinen vorherigen Beziehungen hatte es immer zu viel oder zu wenig von dem einen oder anderen gegeben. Das Verhältnis zu Katina, der Frau, mit der er zusammen gewesen war, als er Veronika kennenlernte, war nicht leidenschaftlich gewesen. Eigentlich war die Beziehung nie richtig auf Touren gekommen, was sicher nicht nur daran lag, dass sie sich nur an Wochenenden getroffen hatten.
Eva, seine längste und wichtigste Liebesbeziehung, war ihm ziemlich an die Substanz gegangen. Eine äußerst komplizierte Geschichte. Ab und zu ereilte ihn der Gedanke, dass er sich wirklich glücklich schätzen konnte, dass diese Zeit hinter ihm lag. Dass es ihm geglückt war loszukommen, noch dazu einigermaßen ungeschoren.
Er öffnete die oberste Schreibtischschublade. Staubige Stifte, Büroklammern in allen Größen und ganz hinten Notizzettel. Er schaute sie durch, ehe er sie wegwarf.
Er war hier an seinem Schreibtisch überflüssig. Ein seltsames, um nicht zu sagen erschreckendes Gefühl. Die Kollegen waren mit Fällen beschäftigt, über die er kaum etwas wusste. Niemand hatte Veranlassung, ihn zu behelligen. Alle gingen vorbei, genau wie vor kurzem Louise. Der eine oder andere hatte kurz Halt gemacht, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln, aber mehr war nicht gewesen. Peter Berg hatte ihn fröhlich begrüßt. Er wirkte unverschämt froh und munter. Seine pockennarbigen, bleichen Wangen hatten eine frischere Farbe angenommen. Vielleicht hatte es aber auch an seinen Kleidern gelegen, die modischer und bunter geworden waren. Unter seinem schwarzen Pullover trug er ein oranges Hemd.
Claesson fühlte sich ebenso ausgeschlossen, wie es die pensionierten Kollegen vermutlich taten, wenn sie ihren alten Arbeitsplatz besuchten. Das Gemeinschaftsgefühl ließ sich nicht konservieren.
Kurz vor elf klingelte das Telefon. Er zuckte fast zusammen, aber es passte ihm ausgezeichnet. Die Langeweile strengte an. In der Gewissheit, es sei Veronika aus Lund, besser als nichts, hob er ab.
Es war zwar nicht seine Frau – eine Bezeichnung, an die er sich noch nicht so ganz gewöhnt hatte –, aber doch ein Anruf aus dieser südlichen Universitätsstadt. Kriminalinspektor Gillis Jensen von der Polizei Lund nannte seinen Namen. Claesson vermutete, dass er ihm in seinem gewandten Schonisch etwas über die Körperverletzung mitteilen wollte. Claesson hatte ihn schließlich eine Woche zuvor wegen Cecilia angerufen. Hatten sie jemanden festgenommen?
Aber es ging nicht um Cecilia, sondern um Jan Bodén.
Ihm stieg die Röte in die Wangen. Das Gespräch mit der Frau kam ihm in den Sinn. Er wusste immer noch nicht, wie diese Nina Bodén aussah, die er Ludvigsson so effektiv aufs Auge gedrückt hatte. Etwas an ihrer Stimme hatte ihm nicht gefallen. Der unablässig vorwurfsvolle Klang. Vielleicht schämte er sich ja auch dafür, dass er sie einfach nur hatte loswerden wollen, zwar nicht an den ersten Besten, aber immerhin. Und obwohl es das einzig Vernünftige gewesen war, kam erschwerend hinzu, dass sie offenbar in derselben Straße wie er wohnte. Nicht dieser Zufall an sich, sondern die Tatsache, dass sie diesem Umstand Bedeutung beizumessen schien. Nachbarn, dachte er. Geschwätz und Getuschel über die Hecken hinweg. Und er, der in ihren Augen einfach mit den Händen im Schoß dasaß.
Veronika hielt alle Karten in der Hand, die ihre Tochter bekommen hatte. Lustige Bilder und fröhliche, optimistische Wünsche.
Gute Besserung ! Nicht klein beigeben ! Du bist eine Kämpferin , das wissen wir ! Wir sehnen uns nach dir ! Bis bald !
Sie kamen von nah und fern. Von Freunden aus der Schule und von neuen Freunden, die
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