Verdacht auf Mord
Und jetzt haben wir außerdem noch Claes. Ich weiß, dass du ihn nicht magst, aber das wird schon noch, auch wenn es etwas dauert. Du wirst schon sehen, alles wird gut.
Erst gestern hatte sie diesen unhörbaren Monolog gehalten. Immer unhörbar. Es waren ständig Schwestern im Zimmer, unsichtbare Schatten, aber trotzdem immer anwesend. Einige von ihnen kannte sie inzwischen. Diejenigen, die sie hatte kennenlernen wollen, die, die sie mochte.
So hatte sie auch heute Morgen am Bett gesessen. Der Arzt war ebenfalls anwesend gewesen. Es war ein schöner Spätsommertag gewesen, Ausflugswetter, hatte sie gedacht. Das Zimmer war von buttergelbem Sonnenlicht erfüllt gewesen. Es war zwar stickig gewesen, keine salzige Meeresluft oder erdiger Tannenduft, aber da war trotzdem eine Sehnsucht, vielleicht auch eine Vorahnung gewesen.
Plötzlich waren alle Gedanken zum Stillstand gekommen. Cecilias Lider hatten gezuckt. Sie hatte immer noch den Tubus im Mund gehabt. Oral intubiert. Der Respirator erledigte regelmäßig und stoßweise die Atmung. Aber die Betäubung war nicht mehr so stark gewesen. Kleine, unruhige Bewegungen. Finger, die nach etwas griffen. Eine Hand, die gehoben wurde. Ein langsames Erwachen wie das von Dornröschen.
Veronika hatte den Atem angehalten. Ihrer Tochter war es gelungen, ein Augenlid ein paar Millimeter weit zu heben. Die Augen hatten sich träge in dem Halbmond unter den dunklen Wimpern bewegt. Die Iris war in dem Spalt zu erkennen gewesen. Und dann die Pupille. Veronika hatte eifrig ihren Blick gesucht.
»Hier bin ich. Siehst du mich?«
Sie hatte sich vorgebeugt und ihr das Gesicht zugewandt. Sich an sie geschmiegt. Wäre fast auf das Bett gefallen. Plötzlich hatte Cecilia sie gesehen. Die schwarze Pupille hatte sie förmlich durchbohrt.
Dann war das Augenlid wieder schwer herabgefallen.
Alles hatte plötzlich eine neue Wendung genommen. Veronika hatte dem Arzt und der Schwester zugelächelt. Es war ungewohnt und überwältigend gewesen. Dann hatte sie ihnen den Rücken zukehren müssen, um sich zu sammeln und dem großen Glück, das sie erfüllte, Platz zu bereiten. Sie hatte aus dem Fenster gesehen. Die wunderbare Aussicht aus dem zehnten Stockwerk hatte ihr einen Augenblick der Schwerelosigkeit beschert. Die offene Grenzenlosigkeit der Schönheit. Die flache Landschaft, die mit dem Öresund verschmolz und die ihr so vertraut war. Die weichen Linien der Öresundbrücke über dem Wasser, die Verbindung nach Kopenhagen, nach Dänemark und auf den Kontinent. Das Hochhaus Turning Torso, das sich wie ein Leuchtturm im Hafen von Malmö in den Himmel schraubte.
Es hatte ihr fast die Brust gesprengt. Tränen waren geflossen.
In einem einzigen Augenblick kann sich alles vollkommen verändern. Wie seltsam war doch das Leben!
Und jetzt befand sie sich auf dem Weg zur Kantine, um eine Kommilitonin von früher zu treffen.
Im Fahrstuhl von der Neurochirurgie stellte sie widerwillig fest, dass sie sich hier bereits sehr heimisch fühlte. Rasch hatte sie sich dieser geschlossenen Welt angepasst, die eigentlich ihrem eigenen Arbeitsplatz sehr ähnlich, jedoch kleiner war und von den großen und ewigen Fragen beherrscht wurde.
Leben und Tod.
Vielleicht auch Glück. Und Trauer.
Ihr Alltag, wie durch eine Lupe betrachtet. Sie hatte sich nicht hinter ihrem Beruf verstecken können. Was geschah, betraf sie und nicht die anderen.
Cecilia hatte einen Zimmergenossen bekommen. Die hoch technisierten Intensiveinheiten waren für zwei Patienten vorgesehen. Am Vormittag des Vortags hatten sie ein Bett hereingerollt. Mopedunfall, wie sie aufgeschnappt hatte. Vermutlich ohne Helm. Er hatte auf dem Sozius gesessen. Ein kurzer Moment, und alles war anders gewesen.
Um das Bett des Jungen herum waren Paravents aufgestellt worden, aber die fieberhafte Aktivität dahinter war ihr trotzdem nicht entgangen. Pflegepersonal in Weiß oder in gelber Schutzkleidung eilte hin und her. Unterhielt sich gedämpft. Sie wusste, was das zu bedeuten hatte. Sie hatte aus einer Art Rücksichtnahme heraus versucht, so wenig wie möglich an Cecilias Bett zu sitzen. Die Eltern waren ihr grau und gebeugt im Korridor begegnet. Der Vater hatte einen Pullover mit dem gelb-grünen Wappen des Bauernverbands getragen. Sie waren ratlos und unbeholfen gewesen.
Patientenzimmer, Angehörigenzimmer, Korridor und Fahrstuhl. Vertraut und beruhigend.
Diese Fahrstühle, hatte sie gedacht, während sie wartete, zu gewissen Zeiten waren sie ständig
Weitere Kostenlose Bücher