Verdacht auf Mord
Veronika nicht einmal dem Namen nach kannte. Aber sie freute sich wirklich sehr, dass so viele an Cecilia dachten.
Sie beugte sich zum Ohr ihrer Tochter vor.
»Cecilia, alle denken an dich«, flüsterte sie froh. »Sara aus Oskarshamn hat mehrere Male angerufen. Und Ester war fast jeden Tag hier. Und dann hast du Karten von Kristoffer, Magdalena, Sanna, Johanna, Ylva und Calle bekommen. Wirklich wahnsinnig viele Leute haben von sich hören lassen. Dass du so viele Freunde hast, meine Kleine. Ist das nicht wunderbar?«
Sie legte den Stoß Karten wieder auf den Nachttisch. Dort stand bereits das Foto von der Hochzeit. Aufgeräumt und fröhlich schauten sie in die Kamera. Die Sonne funkelte in Cecilias langem Haar.
Die Hitze hielt an. Im Krankenhaus blieb die Temperatur gleichmäßig kühl, aber im Freien klebten die Kleider am Leib. Die Nächte wurden allmählich kühler.
Veronika verließ das Entree des Zentralblocks und ging auf die Lasarettsgatan zu. An der Kreuzung hielt sie inne und blinzelte in die Sonne. Es war Mittag, und viele Leute waren unterwegs. Das Klinikgelände war nicht groß, aber dicht bebaut. Hinter dem Zentralblock ragten neue, riesige Gebäude auf, in denen sich Forschungslabors und Unterrichtsräume befanden.
Zum ersten Mal seit dem Unglück hatte sie gute Laune. Sie spürte kaum die kühle Windbö, die ihr durch die Kleider fuhr und ihre Tränen trocknen ließ. Eine Vorahnung des nahenden Herbstes. Zwar war es noch eine Weile bis dahin, zumindest bis zu den düsteren, grauen Tagen im November. Davor lagen noch klare Tage mit durchdringenden Farben. Eine gute Zeit für die Reha, dachte sie. Der Himmel ist dann immer noch zur Sonne hin geöffnet. Zum Leben.
Sie hatte sich in der Klinikkantine mit einer ehemaligen Kommilitonin zum Mittagessen verabredet. Im Augenblick war sie für jede Art von Gesellschaft dankbar. Sie musste jemandem ihr Herz ausschütten. Zwar hatte sie Claes bereits angerufen, aber nur kurz mit ihm sprechen können. Daher gab es noch viel zu bereden. Sie war voller unbändiger Freude. Es war dasselbe Gefühl, wie ein Kind zur Welt gebracht zu haben. Die Euphorie war unbeschreiblich, und sie hatte das starke Bedürfnis, sie in Worten auszudrücken.
Es ging aufwärts.
Nach Tagen in Lund, die wie in einem Vakuum verstrichen waren, ging es jetzt endlich bergauf. Sie hatte nicht gewagt, zu sehr zu hoffen. Gleichzeitig hatte sie die Hoffnung, dass alles wieder so werden würde wie vorher, ihre ganze wache Zeit erfüllt. Auch die Nächte. Sie hatte geträumt, dass sich Cecilia wie in einem Film frisch erwacht behaglich in ihrem Krankenhausbett räkelte und mit ironischem Lächeln sagte: Meine Güte, Mama, was machst du hier? Dann hatte sie sich erstaunt umgesehen. Und was mache ich hier?, hatte sie gefragt, während ihr langes blondes Haar auf dem Kissen ausgebreitet lag.
Cecilia würde vollkommen genesen. Davon waren die Neurochirurgen überzeugt, aber manchmal wagten Patienten nicht, an gute Prognosen zu glauben. Mit diesem Phänomen war sie sehr vertraut. Es gab Patienten, die nicht einsehen wollten, dass sie geheilt waren. Man hatte ihnen eine Diagnose gestellt, vielleicht Krebs, aber jetzt war die Gefahr vorüber. Trotz langer Erklärungen und Bemühungen, sie zu überzeugen, blieb der Gedanke an das Allerschlimmste so stark und lebendig, dass er lähmend wirkte. Sind Sie sich auch hundertprozentig sicher, dass er nie mehr zurückkommt? Natürlich konnte man das nicht sein. Die Angst vor dem Tod wurde von einer Angst vor dem Leben abgelöst. Aber ging man vom Schlimmsten aus, wurde man zumindest nicht enttäuscht.
Zu diesem Fall hatte sie mit nichts als ihrer Anwesenheit beitragen können, und das war ungewohnt. Aber allmählich hatte sie sich damit abgefunden. Eigentlich wollte sie einfach nur bei Cecilia sein. Sie bereitete sich darauf vor, ihre Tochter so zu akzeptieren, wie sie nun einmal sein würde. Sie versuchte, auf jegliches Planen, welcher Art auch immer, zu verzichten. Was blieb ihr auch schon anderes übrig.
Aber ab und zu wurde sie doch ganz schön wütend.
Du hättest einen anderen Vater haben müssen, dachte sie, als sie Cecilia über ihr Stoppelhaar fuhr. Das ist mein Fehler, nicht deiner, meine Kleine. Der Vater, den ich dir ausgesucht habe, hat immerhin ein ganzes Wochenende bei dir ausgeharrt. Dann ist der Egoist nach Hause gefahren. Hat sich wie immer aus dem Staub gemacht. Aber wir sind es schließlich gewohnt, allein zurechtzukommen, du und ich.
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