Verdacht auf Mord
Rätsel. Jan war doch sonst immer so gut orientiert gewesen, klug und kenntnisreich. Er hätte sich nie verirrt und verlaufen. Niemals. Auch nicht mit dieser kleinen Veränderung, wie immer sie jetzt hieß, hinter dem Ohr. Erbsengroß. Ein unbedeutender Tumor, der sich leicht hätte entfernen lassen, wenn sie das richtig verstanden hatte. Er hatte jedoch angedeutet, dass er etwas nervös sei. Vielleicht hatte er sogar Angst gehabt. Aber wer hatte keine Angst vor einer Operation, noch dazu im Kopf? Bevor sie ihr die Galle entfernt hatten, hatte sie nächtelang kaum geschlafen.
Die Sonne ging unter, und es wurde kühler. Die großen Fenster zum Garten heizten das Zimmer tagsüber auf, sorgten aber auch für Abkühlung, wenn es abends dämmerte. Eva-Lena sehnte sich nach ihrem Halstuch. Aber sie blieb auf dem Sofa sitzen, denn sie konnte irgendwie nicht aufbrechen, sie fühlte sich schwer und war Nina unendlich dankbar dafür, dass sie sie nicht gefragt hatte, was sie die letzte Woche unternommen habe.
Genau genommen, überhaupt nichts. Sie hätte alle Zeit der Welt gehabt, Nina zu besuchen, aber daraus war nichts geworden. Manchmal war das Leben so. Als hätte sie es nicht selbst in der Hand. Jedenfalls hatte sie Bernt nicht daran gehindert. Der war entweder bei der Arbeit gewesen oder betrunken und anschließend verkatert. Die Firma lief gut, ob er da war oder nicht, dank seiner guten Mitarbeiter, mit denen er immer so angab. Die hatte er, weil er so eine hervorragende Menschenkenntnis und die fantastische Gabe besaß, gute Leute zu verpflichten. Das hatte sie sich so oft anhören müssen, dass es ihr zu den Ohren rauskam. Dass sie damit ebenfalls gemeint war, hatte sie im Lauf der Jahre ebenfalls begriffen.
Sie war eine Ehefrau, die den Mund hielt und tat, was er ihr sagte.
Sein Verhalten legte jedoch nahe, dass er aufgegeben hatte, jedenfalls einstweilen. Er hatte nicht mehr die Kraft, über sie herzufallen. Diese Feststellung erfüllte sie seltsamerweise mit einer gewissen Trauer. Sie war allen gleichgültig. Niemand näherte sich ihr mehr. Weder auf die eine noch auf die andere Art. Weder Schläge noch Zärtlichkeiten.
Sie war verlassen.
Wie gelähmt war sie hinter halb herabgelassenen Rollos in ihrer Doppelhaushälfte sitzen geblieben. Sie hatte außer im Haus und im Garten nie gearbeitet. Kinder hatten sie nie bekommen, und das stimmte sie am traurigsten. Sie hielt sich dort auf, wo sie immer gewesen war, in ihrem Zuhause, ihrem Schutz vor der Welt, der zu ihrem Gefängnis geworden war. Sie hatte sich nach einer Stimme gesehnt, nach einem Arm um die Schultern, einer Umarmung, aber nichts bekommen. Nicht einmal Nina hatte bei ihr angeklopft. Sie war nicht gekommen, um in ihrer Trauer Trost zu suchen. Seltsam, dachte Eva-Lena. Das wäre bei zwei alten Freundinnen doch das Natürliche und Naheliegende gewesen.
Was hatte Nina daran gehindert?
Was hatte sie gewusst?
Das Telefon klingelte. Nina stand auf und nahm den Hörer ab. Die Kinder waren es nicht, das hörte Eva-Lena. Das Gespräch war kurz. Abgehackt und unfertig.
Als Eva-Lena wieder in der Diele stand, wirkte Nina unkonzentriert. Sie ist stark, dachte Eva-Lena. Und zäh. Sie steht bereits wieder aus der Asche auf.
Nicht Nina würde die Einsamkeit vollkommen lähmen, sondern sie.
Das Geräusch war nicht dasselbe. Nicht wie eben. Auch der verschwommene Schatten war nicht mehr da, sondern jetzt höher und schmaler.
»Ich bin das, Jonathan.«
Sie hörte eine Stimme und versuchte die Augen aufzusperren.
… Jonathan … Jonathan …?
Die Geräusche schwebten wie Schneeflocken durch die Luft.
Aber der Himmel war pechschwarz. Sie glitt vorwärts. Es war kalt und ihr schwindelte.
Es gelang ihr nur, die Lider ein ganz klein wenig zu öffnen. Sie waren wie schwere Vorhänge.
»Wie geht’s?«
Da war diese Stimme wieder. Tief und milde. Warm wie Sonnenlicht. Gelb wie die Sonne, wie eine Melone. Rund, gelb und süß. Sie versuchte das Fruchtfleisch herunterzuschlucken. Wie in Gedanken. Den kühlen, süßen Saft in ihrer trockenen, geschwollenen Kehle. Aber der Schmerz war so durchdringend, dass sie die Augen schließen und tief Luft holen musste, und da hörte sie etwas neben sich wie eine Maschine klicken. Ihre Zähne bohrten sich in etwas Hartes. Gummiartiges. Sie versuchte zuzubeißen.
»Mach den Mund nicht zu!«
Dieses Kommando kam von einer anderen Person. Die Stimme war seidenweich, aber energisch. Sie kannte sie, biss also nicht mehr zu,
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