Verdacht auf Mord
Auflehnung gegen die Normalität, wandte sie sich dem grün gestrichenen Zaun zu. Das Holzhaus des Kommissars lag weiter hinten auf dem Grundstück. Das wusste sie natürlich bereits. Aber jetzt hatte es für sie an Interesse gewonnen oder, genauer gesagt, sein Besitzer.
Schönes Haus, stellte sie fest. Macht aber vermutlich recht viel Arbeit. Holzhaus mit Satteldach und Sprossenfenstern und einer heruntergekommenen Garage daneben. Die hatte dringend einen Anstrich nötig. Die Fenster des Hauses waren nicht wartungsfrei wie ihre, aber dafür hübsch. Sie hätte damals lieber so ein Haus gehabt, aber Jan war dagegen gewesen.
Sie sah das Kind auf der Wiese vor dem Haus herumtollen. Das Mädchen versuchte, einen Holzwagen auf der unebenen Rasenfläche vor sich her zu schieben. Die Grasbüschel rauf und runter, aber meist blieb sie hängen. Jetzt schrie sie.
Nina Bodén beschleunigte ihre Schritte und hatte das Grundstück passiert, noch ehe Claesson sie hätte erblicken können.
Wie in Trance ging sie zum ICA-Supermarkt. Sie nahm einen Korb und ging auf die Fertiggerichte zu.
Sie war keineswegs am Ende. Weder als Mensch noch als Frau. Aber Pierres Umarmungen und seine Blicke waren nicht mehr so angenehm – ein anderes Wort fiel ihr im Augenblick nicht ein – und spendeten keine Wärme mehr.
Sie beschloss, auch noch einen Käsekuchen zu kaufen, und ging rasch zurück zur Kühltheke für Molkereiprodukte, um Sahne zu holen. Dann nahm sie noch ein Glas Erdbeermarmelade.
Plötzlich merkte sie, dass sich ihr jemand von hinten näherte. Eine große Person. Kerstin Malm, Jans Rektorin.
Sie geriet in Panik.
Denk nicht an den Putzmittelraum, ermahnte sie sich. Kein Wort darüber. Lass dich nicht in irgendwas verwickeln. Vor allen Dingen, sag nichts hier mitten im ICA! Lailas Tochter saß an der Kasse, das hatte sie beim Reingehen bemerkt. Das Mädchen war zwar etwas beschränkt, allerdings auch gründlich und sehr nett, aber man konnte trotzdem nie wissen, was sie zu Hause erzählte.
»Bedauerlich.«
Das Wort war wie eine weiche Wolke. Mehr sagte Kerstin Malm nicht. Sie neigte auch nicht ihren Kopf zur Seite, und daher gelang es Nina, ihre Augen trocken zu halten und einen Kloß im Hals zu verhindern. Sie musste nicht weinen.
»Wir vermissen Jan«, fuhr Kerstin Malm im selben unsentimentalen, aber trotzdem warmen Tonfall fort. »Wir denken an Sie, glauben Sie mir.« Sie legte Nina eine Hand auf die Schulter und nickte ihr mit traurigen Augen zu und ging dann ruhig weiter zur Gemüsetheke.
Nina Bodén blieb verblüfft stehen und versuchte sich zu besinnen.
Die Rektorin Kerstin Malm ist ein guter Mensch, dachte sie. Auch wenn Jan gelegentlich über sie hergezogen hatte. Die Malm, das Schlachtschiff, Machtmensch, Schlampe und vieles andere hatte er sie im Laufe der Jahre genannt. Vor allen Dingen damals, als alle mit ihren Beschuldigungen über ihn hergefallen waren.
Aber das war lange her. Wie unterschiedlich es doch sein kann, dachte sie jetzt. Kerstin Malm wusste, wie man sich einem Menschen in tiefer Trauer näherte, ohne sich aufzudrängen. Ohne einem die Luft zum Atmen zu nehmen, aber auch ohne sich aus der Affäre zu ziehen.
Erst als sich Nina Bodén wieder dem Garten des Kommissars näherte, traf sie der nächste Gedanke.
Würde man etwa auch an seinem Arbeitsplatz ermitteln?
Würden sie seine Kollegen verhören, da es sich jetzt nicht mehr um einen gewöhnlichen Todesfall handelte? Nicht mehr um eine Krankheit, sondern …
Nein, dieses Wort vermochte sie nicht einmal zu denken.
Christina Löfgren war wieder einmal spät dran, obwohl sie das gar nicht mochte. Sie hatte gerne alles im Griff und vermied es, sich zu blamieren.
Am Nachmittag hatte sie auf der Entbindungsstation im Erdgeschoss zu tun gehabt, war aber immer mal wieder in ihrem Büro im dritten Stock verschwunden, um das Material für den abendlichen Vortrag zusammenzustellen. Eigentlich war es keine große Sache, nur das normale Montagstreffen mit den Kollegen. Eine gewisse Vorbereitung war jedoch trotzdem erforderlich gewesen. Ein paar Zahlen machten sich auch immer gut, vor allem dann, wenn sie mithilfe des Overheadprojektors präsentiert wurden. Den Computer zu Hilfe zu nehmen war ihr zu kompliziert.
Sie dachte über die Einleitung ihrer Ausführungen nach, während sie die Austreibungsphase verfolgte, die Reaktionen des Kindes auf dem CTG im Auge behielt und versuchte, sich einen Eindruck von der Stimmung im Entbindungsraum zu
Weitere Kostenlose Bücher