Verdächtige Geliebte: Roman (German Edition)
von ihm gehört und angenommen, er forscht an irgendeiner Privatuniversität, aber jetzt ist er Lehrer … Ishigami, nicht zu fassen.« Yukawas sah blicklos in die Ferne.
»Das heißt, er war ein Überflieger?«, fragte Kishitani.
Yukawa seufzte. »Ich gebrauche das Wort Genie ungern leichtfertig, aber bei ihm ist es angebracht. Einer von unseren Professoren hat mal gesagt, einen Studenten wie ihn gebe es nur alle 50 oder sogar 100 Jahre. Wir studierten zwar an verschiedenen Fachbereichen, aber seine herausragenden Leistungen waren berühmt. Er lehnte Computer als Hilfsmittel ab und saß nächtelang da und löste mathematische Probleme auf dem Papier. Meist sah man ihn nur von hinten über einen Schreibtisch gebeugt. So kam er auch zu seinem Spitznamen Bodhidharma. Natürlich war das respektvoll gemeint.«
Kusanagi fiel auf, dass Yukawa diesen Ishigami als einen ihm überlegenen Naturwissenschaftler anerkannte. Er hatte seinen Freund immer für ein Genie gehalten, aber offenbar gab es selbst an der Spitze immer noch jemanden, der weiter oben war.
»Aber jemand, der so brillant ist, würde doch an der Universität bleiben?«, fragte Kishitani.
»Tja, aber wer weiß schon, was so passiert«, sagte Yukawa ungewöhnlich vage.
Kusanagi vermutete, dass er sich nie groß Gedanken darüber gemacht hatte, was aus früheren Bekannten geworden war.
»Wie geht es ihm denn?«, fragte Yukawa.
»Ich weiß nicht, krank sah er jedenfalls nicht aus. Direkt leutselig kann man ihn auch nicht nennen.«
»Ein Mann, dem man nicht ins Herz schauen kann.« Yukawa lachte freudlos.
»Du sagst es. Normalerweise zeigen die Leute, wenn wir auftauchen, zumindest eine Reaktion, sind überrascht oder sogar panisch, aber dieser Ishigami blieb völlig ungerührt. Als hätte er kein Interesse an irgendetwas außerhalb seiner Person.«
»Er interessiert sich für nichts anderes als für Mathematik. Natürlich hat er auch sympathische Züge. Kannst du mir seine Adresse geben? Ich würde ihn gern mal besuchen, wenn ich Zeit habe.«
»So was kommt ja bei dir selten vor.« Kusanagi zog sein Notizbuch hervor und nannte Yukawa die Adresse des Hauses, in dem auch Yasuko Hanaoka wohnte. Der Physikprofessor notierte sie sich. Offenbar hatte er das Interesse an dem Mordfall verloren.
Um 6 Uhr 28 traf Yasuko Hanaoka mit dem Fahrrad vor ihrem Haus ein. Ishigami sah sie durchs Fenster. Auf dem Schreibtisch vor ihm stapelten sich Papiere, alle dicht mit mathematischen Formeln beschrieben. Sie waren seine allabendliche Beschäftigung, wenn er von der Schule nach Hause kam. Er hatte kein Judo-Training gehabt und war deshalb früh zu Hause gewesen, dennoch war er überhaupt nicht vorangekommen. Aber das war nicht nur heute so, seine Arbeit stagnierte schon seit einigen Tagen. Er saß da, lauschte auf Geräusche von nebenan und grübelte darüber nach, wann die Kommissare wiederkommen würden.
Am Abend zuvor hatten sie Yasuko erneut aufgesucht. Dieselben,die auch bei ihm gewesen waren. Er erinnerte sich an den Namen Kusanagi auf einem der Ausweise. Yasuko zufolge hatten sie sie, wie er es erwartet hatte, noch einmal zu ihrem Alibi im Kino befragt. War dort irgendetwas Außergewöhnliches geschehen? Hatte sie beim Hinein- oder Hinausgehen oder im Kino jemanden getroffen? Hatte sie zufällig noch die abgerissenen Karten? Hatte sie im Kino etwas gekauft? Besaß sie noch die Quittung? Wovon handelte der Film, wer war der Hauptdarsteller?
Da sie die Karaoke-Bar nicht mehr erwähnt hatten, vermutete Ishigami, dass sich dieser Teil des Alibis problemlos bestätigt hatte. Aus diesem Grund hatte er das Lokal auch ausgewählt.
Yasuko hatte den Polizisten die Eintrittskarten und die Quittung für das Kinoprogramm gezeigt, genau wie Ishigami es ihr gesagt hatte. Die Polizisten hatten sich damit zufriedengegeben und waren wieder gegangen, aber er glaubte nicht, dass die Sache damit ausgestanden war. Dass sie wegen des Kino-Alibis nachgehakt hatten, bedeutete sicher, dass Hinweise aufgetaucht waren, die Yasuko Hanaoka verdächtig machten. Was konnte das nur sein?
Ishigami erhob sich und nahm seine Jacke. Mit Telefonkarte, Portemonnaie und Schlüssel verließ er die Wohnung. Als er die Treppe betrat, hörte er Schritte von unten. Er ging langsamer und sah hinunter. Es war Yasuko. Sie schien ihn nicht gleich zu bemerken. Erst kurz bevor sie aneinander vorbeigingen, blieb sie überrascht stehen. Ishigami hielt den Blick zwar gesenkt, aber er spürte, dass sie etwas
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