Verdächtige Geliebte: Roman (German Edition)
ich habe dir ein bisschen über die Schulter geguckt.« Der Mann mit den langen Haaren deutete auf Ishigamis Pult.
Ishigamis schaute auf die Formeln in seinem Heft. Er war erst mittendrin, sie waren nicht mehr als ein Teil der Lösung. Wenn dieser Typ auf den ersten Blick erkannt hatte, worum es sich drehte, musste er sich selbst mit diesem Problem beschäftigt haben.
»Hast du auch mal daran gearbeitet?«, fragte er.
Der Langhaarige nahm endlich die Hand vom Kinn und grinste. »Es ist mein Prinzip, nichts Unnötiges zu tun. Deshalb promoviere ich in Physik. Da kann man es sich erlauben, nur die Lehrsätze der Mathematiker zu verwenden. Die Beweisführung überlasse ich dir.«
»Aber du hast Interesse an dem hier?«, fragte Ishigami und zeigte auf sein Heft.
»Weil es schon bewiesen ist. Es kann nichts schaden zu wissen, was bewiesen wurde.« Der Bursche sah Ishigami weiteran. »Der Vier-Farben-Satz ist bewiesen. Alle Landkarten lassen sich in vier Farben kolorieren.«
»Nicht alle.«
»Richtig. Nur unter bestimmten Voraussetzungen. Es muss eine Karte von einer Fläche oder Sphäre sein, wie eine Weltkarte.«
Der Vier-Farben-Satz war eine der bekanntesten Fragen in der Mathematik. Er wurde erstmals 1878 von Arthur Cayley formuliert: »Sind vier Farben ausreichend, um die Länder auf einer beliebigen Karte so zu kolorieren, dass keine zwei aneinander angrenzenden Länder die gleiche Farbe haben?« Es galt also lediglich zu beweisen, dass die vier Farben ausreichten, oder eine Karte zu präsentieren, auf der sich eine solche Abgrenzung als unmöglich erwies. Dennoch hatte es fast einhundert Jahre bis zu einer Lösung gedauert. Erbracht wurde der Beweis von Kenneth Appel und Wolfgang Haken, zwei Mathematikern der Universität von Illinois. Sie hatten im Jahr 1976 mit Hilfe eines Computers bestätigt, dass alle Karten nur Variationen von 150 Ausgangskarten waren, die sämtlich in vier Farben koloriert werden konnten.
»Ich halte das nicht für einen vollkommenen Beweis«, sagte Ishigami.
»Dachte ich mir. Deshalb versuchst du, das Problem mit Papier und Bleistift zu lösen.«
»Ihre Methode war zu aufwendig. Mit menschlicher Arbeitskraft nicht durchführbar. Deshalb haben sie einen Computer benutzt. Aber so kann man unmöglich mit Sicherheit beurteilen, ob ihr Beweis korrekt ist. Es ist keine echte Mathematik, wenn man für einen Beweis einen Computer braucht.«
»Das nenne ich einen wahren Anhänger von Erdős.« Der Student mit den langen Haaren lächelte.
Paul Erdős war ein ungarischer Mathematiker. Er war bekannt dafür, dass er durch die ganze Welt reiste, um gemeinsam mit anderen Mathematikern zu forschen. Er vertrat die Überzeugung, dass gute Theoreme immer einen schönen, natürlichen und klaren Beweis besaßen. Er erkannte den Beweis der Vier-Farben-Theorie von Appel und Haken zwar an, erklärte ihn jedoch für unschön.
Der langhaarige junge Mann hatte Ishigamis Wesen auf Anhieb durchschaut: Er war wahrhaftig ein Anhänger von Erdős.
»Neulich war ich wegen einer Prüfungsaufgabe der Analysis bei einem meiner Professoren«, wechselte er das Thema. »Mit der Aufgabe selbst war alles in Ordnung, nur die Lösung schien nicht besonders elegant. Wie vermutet hatte er sich nur ein bisschen vertippt. Aber das Überraschende für mich war, dass bereits ein anderer Student ihn auf das gleiche Problem hingewiesen hatte. Ehrlich gesagt, war ich etwas enttäuscht. Ich hatte mir eingebildet, der Einzige zu sein, der zu einer vollkommenen Lösung gelangt war.«
»Ach das …«, sagte Ishigami und brach dann ab.
»Kein Problem für Ishigami? Hat der Prof auch gesagt. Selbst wenn man ganz oben ist, gibt es immer noch jemanden, der weiter oben steht. Da wurde mir klar, dass die Mathematik nichts für mich ist.«
»Du hast gesagt, du promovierst in Physik.«
»Ich heiße Yukawa. Freut mich.« Yukawa streckte Ishigami die Hand entgegen.
Ein seltsamer Typ, dachte Ishigami, während er sie nahm. Der Gedanke belustigte ihn, denn er hatte sich immer für den einzigen Seltsamen gehalten.
Nicht dass er sich besonders mit Yukawa angefreundethätte, aber sooft sie sich begegneten, wechselten sie ein paar Worte. Yukawa war belesen und kannte sich auch außerhalb der Mathematik und Physik aus. Er konnte sich ausführlich über Literatur und Kunst unterhalten, beides Bereiche, die Ishigami insgeheim für albern hielt. Wie umfassend Yukawas Kenntnisse waren, wusste er nicht. Er selbst stellte keinen Maßstab dar, und
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