Verdammte Deutsche!: Spionageroman (German Edition)
gegenüberliegenden Ufer.
Sie fröstelt. Es ist kalt, und sie verschränkt die Arme vor der Brust und starrt über den Fluß. Die Schiffe haben wegen der Dämmerung schon ihre Lichter gesetzt. Schlepper mit Lastkähnen kämpfen gegen die Strömung an und ziehen rußige Rauchwolken hinter sich her. Das Greenwichboot hat es leichter, es dampft mit dem Ebbstrom auf die Waterloo-Bridge zu und verschwindet im Halbdunkel unter einem der Brückenbogen.
Jetzt fällt ihr der Traum ein, in dem sie hier ins Wasser fiel. Sie beugt sich über die Brüstung und schaut in das schwarze Wasser hinunter, hypnotisiert von den dunklen Strudeln. Kann es sein, daß ihr Vater überhaupt erst durch ihre Bekanntschaft mit Adrian in Spionageverdacht geraten ist?
Der Fluß weiß die Antwort nicht. Er lockt mit Davontreiben, mit dunklem Vergessen.
Wahrscheinlich würde sie untergehen wie ein Stein, sobald sich der Mantel vollgesogen hat. Vielleicht würde sie gar nichts davon merken, das Wasser muß schrecklich kalt sein, und vermutlich bleibt einem von dem Schock einfach das Herz stehen. Dann würde es nicht mehr wehtun.
Neben ihr sagt eine Stimme: » Sie wollen doch nicht etwa ins Wasser, Miss?«
Sie zuckt erschrocken zusammen. Ein Mann steht neben ihr und sieht ihr, ein wenig vorgebeugt, besorgt ins Gesicht. Dunkler Oberlippenbart, schon über die Vierzig, registriert sie ganz unbewußt. Er trägt einen langen Ulster Overcoat, so einen mit dem kurzen Umhang über den Schultern.
» Nein«, stammelt sie, » wie kommen Sie darauf?«
» Nur so ein Gefühl«, erwidert er, » ich wollte Sie nicht belästigen. Aber für mich sah es so aus…« Er spricht den Satz nicht zu Ende.
Wäre sie wirklich ins Wasser gesprungen? Sie weiß es selbst nicht. Aber jetzt geht es nicht mehr. Hat er ihr vielleicht das Leben gerettet? Sollte sie ihm dankbar dafür sein?
Sie sagt: » Nein, nein, ich war nur ganz in Gedanken versunken.«
» Dann bitte ich Sie vielmals um Verzeihung, Miss.«
Sie löst sich von der steinernen Brüstung und sagt: » Da gibt es nichts zu verzeihen. Sie waren besorgt, und es war sehr freundlich von Ihnen, Sir.« Im Gehen fügt sie hinzu: » Haben Sie vielen Dank.«
Sie überquert die Straße und blickt noch einmal über die Schulter. Er steht noch an derselben Stelle, zwischen Sphinx und Obelisk, und sieht ihr nach.
Ihre Stimmung schlägt auf einmal um. Die stumpfe Traurigkeit, die sie seit Wochen niederdrückt und an der Adrian schuld ist, weil er nichts mehr von ihr wissen will, ist wie weggeblasen. Statt dessen wallt Zorn in ihr auf, so heftig, daß sie die Zähne zusammenbeißen muß. Dieser Schuft! Wie konnte sie nur auf ihn hereinfallen? Hat sich mit ihr amüsiert, solange er in England war, und jetzt hat er sie einfach vergessen.
Glatz, 22. Dezember 1912, Sonntag
Um neun Uhr, nach dem Frühstück im Hotel Stadtbahnhof, machen sich Seiler und Tapken in Uniform und Mantel auf zur Festung, die hoch über Glatz thront und das ganze Neißetal beherrscht. Der Frost, die verschneiten Berge ringsum, in der Stadt liegt der Schnee knöcheltief, das paßt zu Seilers Seelenzustand. Auf dem Sellgittplatz vor dem Hotel ist eine große Weihnachtstanne aufgestellt, die hübsch eingeschneit ist. Davor übt ein Kinderchor » Ihr Kinderlein kommet«, dirigiert von einem dicken Lehrer mit Vollbart und dem Eisernen Kreuz auf der Brust.
Auf der Roßbrücke überqueren sie die Neiße, der Fluß ist schwarz, und an seinen Rändern hat sich in der Nacht Eis gebildet. Dann geht es durch enge Altstadtgassen steil bergauf.
Tapken hat ihren Besuch telephonisch angekündigt, und der Adjutant des Festungskommandanten erwartet sie am Tor und führt sie ins Büro der Kommandantur. Dort empfängt sie Oberst Freiherr von Gregory in der blauen Armeeuniform des Glatzer Füsilierregiments Graf Moltke. Seiler schätzt ihn auf Ende fünfzig, helle blaue Augen, graues, kurzgeschnittenes Haar, grauer Schnurrbart. Ein Monokel baumelt an einer Schnur vor seiner Brust.
Tapken legt die Verfügung des Reichsgerichts vor, und der Oberst klemmt sich das Einglas ins Auge und überfliegt das Dokument. Er zeichnet es ab, reicht es zurück und gibt ihnen einen militärisch knappen Bericht über die Gefangenen: » Captain Trench spricht sehr gut Deutsch und Französisch, lernt zur Zeit Dänisch. Lieutenant Brandon hat inzwischen ebenfalls Deutsch gelernt, ist aber noch nicht sehr sicher darin. Für beide gilt: Führung tadellos. Gentlemen vom Scheitel bis zur
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