Verderbnis
durch die beiden Henkel eines großen schwarzen Seesacks gezogen und mit einem Karabinerhaken gesichert. Der Seesack warf einen zerfaserten Schatten auf das Wasser. Das Seil wirkte stark genug, um einen großen Gegenstand in den Kanal hinunterzulassen. Einen Leichnam zum Beispiel. Und da war noch etwas, das nicht in den Tunnel gehörte. Ein undeutlicher, heller Streifen weiter hinten auf dem Wasser. Flea spähte konzentriert hinüber. Da schwamm etwas zwischen den Stein- und Lehmhaufen im Wasser, gleich hinter der Säule aus Mondlicht: ein Schuh, eine Mischung aus Spangen- und Turnschuh. Pastellfarben bedruckt, weich, mit einer kleinen Schnalle am Querriemen – ein Kinderschuh. Genau so einer, wie Martha ihn bei ihrem Verschwinden getragen hatte.
Ein Adrenalinstoß durchfuhr Fleas Körper bis in die Fingerspitzen. Er war hier gewesen. Vielleicht versteckte er sich irgendwo im Schatten …
Aufhören. Nicht fantasieren. Handeln. Er konnte ihr nicht durch dieses Loch folgen. Das einzig Kluge wäre, den Rückzug anzutreten, den Weg durch den Kanal zurückzugehen und Alarm zu schlagen. Sie begann rückwärtszurutschen, aber auf halber Strecke blieb sie stecken. Ihre Schultern klemmten in dem engen Loch. Hektisch versuchte sie, den rechten Arm zurückzuziehen, und drehte sich seitwärts, um ihn zu lösen, doch dabei pressten ihre Rippen sich an die Höhlendecke und drückten ihr die Lunge zusammen. Sie zwang sich innezuhalten: Sie durfte nicht in Panik geraten. Im Kopf hörte sie sich schreien, aber sie ließ innerlich locker und nahm sich Zeit, um sich zu beruhigen. Sie atmete flach, damit ihre Lunge trotz des Drucks arbeiten konnte.
Irgendwo aus der Ferne kam ein vertrautes Geräusch. Ein Donnern. Sie und Wellard hatten es gehört, als sie das erste Mal hier waren. Ein Zug raste über die Gleise. Sie sah ihn vor sich, er wirbelte die Luft zur Seite, und unter ihm bebten Erde und Gestein. Die meterdicken Schichten aus Erde und Lehmsedimenten über ihr konnte sie ebenfalls vor sich sehen. Und ihre Lunge: zwei verwundbare ovale Hohlräume in der Dunkelheit. Die kleinste Bewegung des Bodens konnte sie zerquetschen. Und Martha. Vielleicht lag ihr Leichnam irgendwo da vorn im Kanal.
Ein Stein löste sich dicht vor ihrem Kopf, rollte den kurzen Hang hinunter und fiel platschend ins Wasser. Der Tunnel bebte. Scheiße, Scheiße, Scheiße . Sie atmete so tief ein, wie sie konnte, stemmte die Knie an die Öffnung, krallte die linke Hand um den Felsbrocken und zog mit aller Kraft. Ruckartig und mit den Füßen voran rutschte sie in die erste Kammer zurück und schrammte mit dem Kinn über den Steinbrocken. Die Markierungsleine glitt den Abhang hinunter, und sie purzelte mitsamt ihrem Rucksack hinterher und landete rücklings im Wasser.
Die Kammer um sie herum ächzte und dröhnte. Sie zerrte die Lampe aus dem Rucksack, schaltete sie ein und leuchtete nach oben. Die ganze Höhle vibrierte. Ein Riss in der Tunneldecke verlängerte sich blitzartig; er sah aus wie eine Schlange, die sich durch das Gras schlängelte. Ein ohrenbetäubendes Krachen hallte von den Wänden der kleinen Kammer wider. Vornübergebeugt taumelte sie durch das Wasser auf die einzige Deckung zu, die sie ausmachen konnte: zum Heck der Schute. Gerade hatte sie sich in den Hohlraum dahinter gezwängt, als das Prasseln herabstürzender Erdbrocken den Tunnel erfüllte und Steine pfeifend an ihren Ohren vorbeiflogen.
Der Lärm schien kein Ende zu nehmen. Sie kauerte im Schlamm, schützte den Kopf mit den Händen und hielt die Augen fest geschlossen. Auch als der Zugdonner verklungen war, blieb sie so sitzen und lauschte auf das Klappern kleiner Steine, die immer noch herunterfielen. Jedes Mal, wenn sie dachte, es sei vorüber, rieselten irgendwo im Dunkeln erneut welche herab und klatschten ins Wasser. Es dauerte mindestens fünf Minuten, bis in der Kammer wieder Ruhe herrschte und sie den Kopf heben konnte.
Sie wischte sich das Gesicht an den Schultern ihres Überlebensanzugs ab, leuchtete mit der Lampe umher und fing an zu lachen, ein langes, leises Lachen ohne Heiterkeit, fast ein Schluchzen, das in dem, was von der Kammer noch übrig war, widerhallte. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten. Sie ließ den Kopf auf den Rand des Kahns sinken und rieb sich die Augen.
Fuck . Was sollte sie jetzt machen?
46
D as Mondlicht kroch hinter den Wolkenfetzen hervor, und das Spiegelbild des kalten Sternenhimmels im Wasser des Steinbruchsees verblasste in
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