Verderbnis
seinem blauen Glanz. Caffery parkte auf dem Weg am Rand des Sees und schaute reglos aus dem Fenster. Ihm war kalt. Er befand sich jetzt seit mehr als einer Stunde hier. Nachdem er vier Stunden tief in seinem Bett geschlafen hatte, war er kurz vor fünf plötzlich hochgeschreckt und sich sicher gewesen, dass ihn etwas draußen in der eiskalten Nacht erwartete. Er war aufgestanden, denn wenn er jetzt wach zu Hause bliebe, würde das ein schlechtes Ende nehmen – wahrscheinlich mit Tabaksbeutel und Whiskyflasche. Deshalb hatte er Myrtle auf den Rücksitz gepackt und war ein bisschen durch die Gegend gefahren. Er hatte damit gerechnet, irgendwo hinter einer Hecke das Lager des Walking Man zu entdecken. Stattdessen war er hier draußen gelandet.
Der geflutete Steinbruch war groß – ungefähr so groß wie drei Fußballplätze – und tief. Er hatte die Pläne studiert und herausgefunden, dass das Wasser an einer Stelle mehr als fünfzig Meter in die Tiefe reichte. Die Felsen dort unten waren von Pflanzen bedeckt, dazwischen lagen alte Steinabbaumaschinen, und es gab überflutete Nischen und Höhlenverstecke.
Zu Anfang des Jahres hatte ein Mann ihm Kopfzerbrechen bereitet, ein illegaler Einwanderer aus Tansania, der ihn durch das ganze County verfolgt und aus dem Schatten beobachtet hatte, wie ein Kobold oder wie Gollum. Fast einen Monat lang war das gegangen, und so plötzlich, wie der Mann damit begonnen hatte, hatte er auch wieder aufgehört. Caffery wusste nicht, was aus ihm geworden war – ob er überhaupt noch lebte. Manchmal ertappte er sich dabei, dass er spätabends aus dem Fenster schaute und sich fragte, wo er sein mochte. Fast vermisste er den Kerl.
Eine Zeit lang hatte der Tansanier hier im Steinbruch gehaust, unter den Bäumen rings um den See. Aber es gab noch mehr an diesem Ort, das Caffery bei jedem Geräusch, bei jedem Flackern des Lichts an seinem Auto eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Hierher hatte Flea die Leiche geschafft. Die tote Misty lag irgendwo in der schweigenden Tiefe.
Sie beschützen sie, und Sie sehen noch nicht, was für einen hübschen Kreis das abgibt .
Einen hübschen Kreis.
Eine einzelne Winterwolke zog am Mond vorbei. Caffery starrte ihn an – den Mond. Ein blasser Fingernagel in Weiß, ein schwacher Lichtschimmer auf seiner dunklen Seite. Rate mal hier, rate mal da. Der Walking Man, dieser raffinierte Hund, gab ihm immer wieder Hinweise. Ließ ihn immer weiterkriechen, immer mit der Nase am Boden. Caffery glaubte nicht, dass der Zorn des Walking Man lange anhalten würde. Aber heute Nacht hatte er ihn nicht gefunden, und schon das empfand er als eine Rüge.
»Dieser störrische alte Scheißkerl«, sagte er zu Myrtle, die auf dem Rücksitz hockte. »Dieser elende, störrische alte Scheißkerl.«
Er zog sein Telefon aus der Tasche und wählte Fleas Nummer. Es war ihm egal, ob er sie weckte, und er wusste auch nicht, was er sagen sollte. Er wollte der Sache einfach ein Ende bereiten. Hier und jetzt. Dazu brauchte er den Walking Man mit seinem Hokuspokus, seinen Rätseln und Hinweisen nicht. Aber sofort meldete sich die Mailbox. Er trennte die Verbindung und steckte das Telefon wieder ein. Nicht einmal zehn Sekunden später klingelte es in seiner Tasche. Er zerrte es heraus und dachte, Flea rufe zurück, aber sie war es nicht. Die Nummer des Anrufers war unterdrückt.
»Ich bin’s. Turner. Im Büro.«
»Mein Gott.« Caffery rieb sich müde die Stirn. »Was, zum Teufel, machen Sie denn da so früh am Morgen?«
»Ich konnte nicht schlafen.«
»Weil Sie sich überlegen, wie viele Überstunden Sie zusammenmogeln können?«
»Ich hab da was.«
»Was?«
»Edward Moon. Bekannt als Ted.«
»Wer ist …?«
»Der kleine Bruder dieses fetten Scheißers.«
»Und für den soll ich mich interessieren, weil …?«
»Weil wir ihn in unserem Fotoalbum haben. Sie müssen sich die Bilder ansehen, aber ich bin neunundneunzig Komma neun Prozent sicher: Er ist es.«
Caffery sträubten sich die Nackenhaare wie bei einem Jagdhund, der Blut wittert. Er blies die Wangen auf. »Im Fotoalbum? Er ist vorbestraft?«
»Vorbestraft?« Turner lachte trocken. »So kann man es nennen. Er hat zehn Jahre in Broadmoor abgesessen, in der psychiatrischen Hochsicherheitsklinik. Wurde gerichtlich dort eingewiesen. Gilt das als Vorstrafe?«
»Du lieber Gott. Zehn Jahre – dann war es sicher …«
»Mord, ja.« Turners Stimme klang ruhig, aber sie hatte einen erregten Unterton. Auch er
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