Verderbnis
versank so schnell in Dunkelheit, dass sie die Hand ausstrecken musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Warum, zum Teufel, hatte sie gestern nicht daran gedacht, die Taschenlampe auszumachen? Denn da war Licht, ungefähr drei Meter hoch über dem Boden. Ein matter blauer Schimmer. Mondlicht. Es sickerte durch die lose Erde oben über dem Einbruch. Da war er also – der neunzehnte Luftschacht auf der anderen Seite der Einsturzstelle.
Sie zog die Rucksackgurte straff und kletterte hinauf. Die Markierungsleine rollte hinter ihr ab und klatschte auf die Rückseite ihrer Schenkel. Sie brauchte keine Lampe; das hereindringende Mondlicht genügte. Oben benutzte sie ihre Hände, um einen ebenen Sims für ihre Knie in den Lehm zu graben und einen zweiten für den Rucksack. Dann kniete sie sich darauf und schob den Kopf in das Loch.
Mondlicht. Und eine Geruchsmischung aus Vegetation, Rost und Regenwasser. Der Geruch des Luftschachts. Das Tröpfeln hallte im Raum. Sie zog sich zurück und wühlte in ihrem Rucksack, bis sie den Meißel gefunden hatte, den ihr Vater zum Graben in Höhlen benutzt hatte.
Die Bleicherde, die zuoberst lag, war nicht zusammengepresst, sondern bröckelig und ziemlich trocken. Der Meißel drang rasch durch die losen Steinchen; sie scharrte sie mit den Händen weg und hörte, wie sie hinter ihr den Hang hinabrollten und klatschend ins Wasser fielen. Bald hatte sie unter der Tunneldecke eine dreißig Zentimeter hohe Lücke freigeräumt. Blau lag das Mondlicht vor ihr, aber dann traf sie auf einen Stein. Ein Felsblock. Sie schlug mit dem Meißel dagegen. Noch einmal. Er prallte ab. Ein Funke verglühte. Der Brocken war zu groß. Sie konnte ihn nicht bewegen. Schwer atmend lehnte sie sich zurück.
Fuck .
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und begutachtete das Loch. Es war nicht groß, aber vielleicht gerade weit genug, um durchzukommen. Ein Versuch konnte nicht schaden. Sie nahm den Helm ab, legte ihn neben den Meißel und schob den rechten Arm Stück für Stück durch das Loch. Zwanzig, dreißig Zentimeter, und als er ganz ausgestreckt war, reichte er gut einen halben Meter durch das Loch. Jetzt den Kopf. Sie drehte sich leicht nach links, presste die Augen zu und schob den Kopf hinein. Sie stemmte sich mit den Knien voran und zog sich mit den Fingerspitzen weiter, bis die Hand auf der anderen Seite herauskam und sie die kühle Luft spüren konnte. Scharfe Steinsplitter im Lehm zerkratzten ihr die Wangen. Sie stellte sich vor, wie ihre Hand oben auf dem Erdrutsch aussah: Körperlos ballte und streckte sie sich im Mondlicht. Ob jemand sie beobachtete? Sofort verbannte sie diese Frage aus ihrem Kopf. Solche Gedanken konnten einen innerhalb von einer Sekunde lähmen.
Lehm löste sich und rieselte ihr in den Nacken; kleine Körnchen drangen ihr in die Ohren und legten sich auf ihre Wimpern. Sie schob sich mit den Knien weiter. Um den linken Arm nach vorn zu bekommen, war nicht genug Platz. Sie spannte die Beinmuskeln an. Noch einmal streckte sie die schmerzenden Waden, und dann waren ihr Kopf und der rechte Arm draußen im Licht.
Sie hustete und spuckte, wischte den Dreck aus Augen und Mund und schüttelte ihn vom Kopf.
Sie schaute auf einen weiteren Abschnitt des Kanals hinunter. Er wurde beherrscht von einer Säule aus Mondlicht, die durch den weiten Luftschacht von oben hereinfiel. Bizarre Buckel erhoben sich im Wasser, wo der Lehm in den Kanal gefallen und sich halb aufgelöst hatte. Der Einbruch, auf dem sie lag, war nicht sehr breit: Knapp zwei Meter unter ihr ragte das vordere Ende des Kahns aus dem Wasser. Die Last des Erdreichs in der Mitte drückte den Bug ein wenig in die Höhe, und das Deck bog sich unter einer verrosteten Seilwinde. Ungefähr fünfzig Meter weit vor ihr, im Dunkeln gerade noch erkennbar, erhob sich die nächste Wand aus Lehm und Steinen. Vielleicht befand sich dort das Ende der langen Einsturzstelle, die sie und Wellard gesucht hatten. Dieser neue Abschnitt schien also ebenfalls zu beiden Seiten eingeschlossen zu sein, genau wie der, aus dem sie gekommen war. Das bedeutete, dass der einzige Zugang durch den Luftschacht führte.
Sie schaute hinauf. Wasser tropfte stetig herab, harte kleine Schallpunkte in der Stille. Das Gitter in der Decke war halb zerbrochen und hing bedrohlich herunter, verfilzt von nassen Pflanzenteilen. Aber da baumelte etwas durch die Lücke zwischen Gitter und Schachtwand. Ein Stück Kletterseil an einem Haken, in einer Schlaufe
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