Verderbnis
Ich kann einfach nicht glauben, dass er uns beobachtet hat.«
Janice nickte, schüttelte allen die Hand und versuchte zu lächeln. Aber in ihrem Innersten blieb sie unbeteiligt. Die Blunts kamen als Erste. Neil war groß und schlank und hatte wie Cory aschblondes Haar, aschblonde Wimpern und Brauen. Simone hatte blondes Haar, hellolive Haut und braune Augen. Janice betrachtete sie eingehend und überlegte, ob irgendeine Ähnlichkeit im Aussehen etwas in Moons Kopf in Bewegung gesetzt, ihn veranlasst hatte, sie auszuwählen. Rose und Jonathan Bradley machten einen noch mitgenommeren Eindruck als auf den Zeitungsfotos. Rose hatte feines, blondes Haar und eine so dünne Haut, dass man die Adern darunter sehen konnte. Sie trug eine Stretchhose, weiche Schuhe, einen pinkfarbenen Blumenpullover und ein pinkfarbenes Halstuch. Dieses Halstuch hatte etwas Mitleiderregendes in seinem Bemühen, den Schein zu wahren. Sie und Jonathan gaben Janice die Hand und saßen dann beinahe schuldbewusst in ihren Sesseln, ihre Teetassen umklammernd. Dann kam Damien Graham herein, und Janice wusste, dass jeder Gedanke an äußere Ähnlichkeit Unsinn war. Er war schwarz, groß und kräftig gebaut und hatte sehr kurzes Haar. Es gab nicht die geringste Gemeinsamkeit mit Cory, Jonathan oder Neil.
»Alyshas Mum kann nicht kommen.« Er wirkte ein bisschen schüchtern und in dieser hübschen ländlichen Umgebung deplatziert. Er nahm im letzten Sessel Platz, einem zierlichen Ohrensessel, und zupfte verlegen an den Bügelfalten seiner Hose. »Lorna.« Er schlug die Beine übereinander, und der kleine Sessel knarrte.
Janice starrte ihn dumpf an, und eine ungeheure Müdigkeit überkam sie. Manche Leute sagten, dass sie sich unter solchen Umständen leer und taub fühlten. Sie wünschte, sie könnte auch so empfinden. Alles wäre besser als dieser bohrende Schmerz unter den Rippen, wo einmal ihr Magen gewesen war. »Hören Sie, ich sollte mich Ihnen allen richtig vorstellen. Ich bin Janice Costello. Und das ist mein Mann Cory, da drüben in der Ecke.« Sie wartete, während alle sich umdrehten und grüßend die Hand hoben. »Sie werden unseren Namen noch nicht gehört haben, denn man hat ihn zurückgehalten, als unsere kleine … unsere kleine Tochter entführt wurde.«
»In der Zeitung stand, dass es wieder passiert ist«, sagte Simone Blunt. »Alle wissen es, aber Ihren Namen kennt man nicht.«
»Man wollte uns schützen.«
»Die Kameras«, sagte Rose leise. »Hat er bei Ihnen Kameras versteckt?«
Janice nickte. Sie legte die Hände in den Schoß und betrachtete sie; sah die Adern auf dem Handrücken, die durch die Haut schimmerten. Ihre Stimme war ausdruckslos. Jedes Wort, das aus ihrem Mund kam, strengte sie an. »Ich weiß, dass die Polizei mit Ihnen gesprochen hat. Ich weiß, dass sie es immer und immer wieder durchgehechelt haben, um herauszufinden, worin unsere Gemeinsamkeiten bestehen. Aber ich dachte mir, wenn wir uns treffen, können wir vielleicht herauskriegen, warum er uns ausgesucht hat, und vielleicht sogar erahnen, wen er als Nächstes auswählen wird. Denn ich glaube, er wird es wieder tun. Und die Polizei glaubt es auch, selbst wenn sie es nicht sagt. Und wenn wir herausbekommen, wer der Nächste ist, haben wir vielleicht die Chance, ihn zu fassen – und zu erfahren, was er mit unserer …« Sie holte Luft und hielt den Atem an. Sie wich Roses Blick aus, denn sie wusste, was sie in ihren Augen sehen würde. Als sie ihre Stimme wieder unter Kontrolle hatte, fuhr sie fort. »Aber nachdem ich Sie jetzt alle kennengelernt habe, glaube ich, dass es eine eher dumme Idee von mir war. Irgendwie hatte ich gehofft, dass wir einander wirklich ähnlich sein würden. Vielleicht die gleichen Dinge mögen, in ähnlichen Häusern und Verhältnissen leben, aber das ist nicht der Fall. Ich sehe schon auf den ersten Blick, dass wir verschiedener nicht sein könnten. Es tut mir leid.« Sie war erschöpft. Zutiefst erschöpft. »So leid.«
»Nein.« Neil Blunt beugte sich vor, sodass sie gezwungen war, ihm ins Gesicht zu schauen. »Es braucht Ihnen nicht leidzutun. Sie sind einem Gefühl gefolgt, und dabei sollten Sie bleiben. Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht gibt es wirklich eine Verbindung zwischen uns. Eine, die nicht sofort erkennbar ist.«
»Nein. Sehen Sie uns doch an.«
»Es muss etwas geben.« Er ließ sich nicht beirren. »Irgendetwas. Vielleicht erinnern wir ihn an jemanden. Aus seiner Kindheit.«
»Oder es sind unsere
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