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Verderbnis

Titel: Verderbnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Scheibenwischer hochklappte, um das Eis vom Glas zu kratzen. Die Frau fuhr ein letztes Mal über das Fenster und ging dann wieder nach vorn, wischte den Außenspiegel ab und setzte sich auf den Fahrersitz. Sie blies sich in die kalten Hände und fummelte mit dem Autoschlüssel herum.
    Der Mann zog die Santa-Claus-Maske über den Kopf, stieg über die niedrige Steinmauer zwischen den Grundstücken, trat gemächlich an ihre Seite des Wagens und öffnete die Tür.
    »Aussteigen.«
    Die Reaktion der Frau bestand darin, dass sie die Hände hochriss. Sie tat es instinktiv, um ihr Gesicht zu schützen. Aber damit machte sie für ihn den Weg frei, sodass er hinüberlangen und ihren Sicherheitsgurt öffnen konnte. Als sie ihren Fehler erkannte, war es zu spät. Er zerrte sie bereits aus dem Wagen.
    »Aussteigen, Schlampe.«
    »Nein! Nein! Nein !«
    Aber er war stark, packte sie bei den Haaren und zog sie heraus. Ihre Hände krallten sich an ihre Kopfhaut, und strampelnd suchten ihre Beine irgendwo Halt. Sie klemmte ein Knie unter das Lenkrad und umklammerte mit ihrer linken Hand den oberen Türrahmen; doch sie konnte sich nicht festhalten. Ein Ruck, und sie war draußen, taumelte, fiel hin und schürfte sich das Knie auf, sodass die Strumpfhose zerriss. Ihre Finger krallten sich um seine behandschuhten Hände und versuchten, ihr Haar aus seinem Griff zu befreien, aber er schleifte sie rückwärts vom Wagen weg und ignorierte ihren Befreiungsversuch. Sie stieß sich mit den Füßen vom Boden ab, trat um sich und kreischte. Er fühlte, wie Haare sich aus ihrer Kopfhaut lösten, als er sie gegen die Haustür schleuderte.
    »Geh weg!« Sie stieß ihn mit aller Kraft von sich. » Geh weg von mir .«
    Er versetzte ihr einen Stoß, und sie taumelte quer über die Eingangsstufe, riss die Arme hoch, ruderte damit und prallte gegen den Mauerpfeiler, sodass sie sich die Haut an den Händen aufschürfte. Ihr linkes Bein schoss nach vorn, hätte ihren Schwung fast aufgefangen, schaffte es aber nicht. Sie stolperte, stürzte, landete auf der rechten Schulter, rollte auf die Seite und sah gerade noch, wie der Mann ins Auto sprang und den Motor startete. Das Radio erwachte zum Leben und plärrte »When A Child Is Born« in die kalte Luft hinaus. Der Motor heulte auf, und eine weiße Abgaswolke schoss aus dem Auspuff. Der Mann löste die Handbremse, um dann in hohem Tempo rückwärts aus der Einfahrt zu rasen.
    Der Wagen hielt mitten auf der Straße gerade so lange, wie Prody brauchte, um den Vorwärtsgang einzulegen; dann jagte er mit kreischenden Reifen davon. Erst jetzt wurden ein paar von Skye Stephensons Nachbarn aufmerksam. Einer oder zwei kamen aus ihren Häusern und liefen durch den Vorgarten zur Straße, aber es war zu spät. Der kirschrote Wagen mit Allradantrieb war am Ende der Straße um die Ecke gebogen und verschwunden.

73
    C lare Prody schminkte sich nicht und färbte auch ihr langweilig blondes Haar nicht. Sie kleidete sich hübsch, trug unauffällige pastellfarbene Mehrteiler aus Geschäften der mittleren Preisklasse wie etwa Gap und dazu flache Schuhe. Sie sah aus, als käme sie aus der gleichen sozioökonomischen Ecke wie Janice Costello. Aber wenn sie den Mund öffnete, sprach da unverkennbar ein Landei. Ein Mädchen aus Bridgewater in Somerset. Zwei Eisenbahnfahrten nach London waren die weitesten Reisen, die sie je unternommen hatte – einmal für Les Miserables und einmal für das Phantom der Oper . Sie war Lernschwester im Bristol Royal gewesen und hatte davon geträumt, mit Kindern zu arbeiten, als Paul Prody in ihr Leben trat. Er hatte sie geheiratet und dazu überredet, ihren Beruf aufzugeben und zu Hause bei ihren beiden Kindern zu bleiben, bei Robert und Josh. Paul hatte einen guten Job, und Clare war von ihm abhängig. Sie wurde jahrelang von ihm misshandelt, ehe sie den Mut fand, ihn zu verlassen.
    Jetzt saß sie vor Cafferys Schreibtisch, und er betrachtete sie aufmerksam. Sie trug das, was ihr als Erstes in die Hände gefallen war, bevor sie sich auf den Weg hierher gemacht hatte: ein Jogging-T-Shirt und eine Khakihose, und aus irgendeinem Grund hatte sie sich eine blau karierte Decke um die Schultern gelegt, die sie vor der Brust zusammenhielt. Sie hatte diese Decke nicht, weil sie fror, sondern weil sie sich wie ein Flüchtling fühlte. Wie jemand, der permanent im Zustand des Weglaufens war. Ihr Gesicht wirkte blass, aber die Nase sah schrecklich gerötet und wund aus. Seit sie vor einer halben Stunde

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