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Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)

Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)

Titel: Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Böckler
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ihm wollte nichts einfallen. Nur, dass er sich wünschen würde, dass seine Eltern noch am Leben wären, und seine Großmutter Ottilia. Und dass Rudolf nicht so ein Schweinehund wäre. Und dass es diese Entführung nicht gegeben hätte. Aber das war ja wohl etwas zu viel verlangt für eine einzige kleine Sternschnuppe. Hier auf dieser Terrasse war es passiert, vielleicht zu genau dieser Stunde war Ottilia ins Rosenbeet gestürzt. Er hatte diesen Unfall nie so recht verstanden, und auch Laura hatte gesagt, dass ihr der Sturz ausgesprochen seltsam vorkomme. Und einige Male schon war im Zusammenhang mit Grandmas Tod Rudolfs Name unausgesprochen im Raum gestanden. Und wenn es denn wirklich so gewesen war, dass Rudolf auf das Erbe spekuliert hatte? Mark fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Aber ein Mord an seiner eigenen Großmutter, nein, das konnte einfach nicht sein. Es war etwas anderes, für einen Selbstmord verantwortlich zu sein, das war schlimm genug. Aber wenn Rudolf tatsächlich auch Alessandro umgebracht hatte, dann wäre es doch vielleicht …
    Mark wurde aus seinen Gedanken gerissen. Vor ihm stand Laura, sie war nur undeutlich zu erkennen, aber dass sie nackt war, das konnte er sehen. Mark stand auf und nahm sie in die Arme. Er streichelte sanft ihren Rücken und küsste ihren Hals.
    »Laura, bevor wir ins Bett gehen, habe ich einen Wunsch, der dir vielleicht etwas komisch vorkommt.«
    »Da bin ich aber neugierig.«
    »Könntest du bitte für einen kurzen Augenblick eines dieser langen Kleider anziehen, die Ottilia so gerne getragen hat.«
    Laura schob Mark entrüstet von sich. »Spinnst du, bist du ein Perverser, oder was?«
    »Nein, bin ich nicht.« Marks Stimme war ganz leise. »Aber ich möchte etwas ausprobieren. Tu mir den Gefallen, bitte!«
    »Ich glaube nicht, dass mir die Kleider passen. Ottilia war zwar ziemlich groß, aber …«
    »Versuch es doch einfach, und dann komm wieder zu mir auf die Terrasse.«
    Leise protestierend ging Laura ins Haus. Als sie nach zehn Minuten zurückkam, fühlte sie sich alles andere als wohl in ihrer Haut. Sie hatte ein geblümtes Seidenkleid an, das fast auf den Boden reichte. Ein ganz ähnliches Kleid, wie es Ottilia getragen hatte, als Laura sie im Rosenbeet gefunden hatte.
    »Mark, wo bist du?«
    »Hier unten!«, rief Mark aus der Richtung des Rosenbeets. Laura schauderte es. Fehlte nur noch, dass im Haus die Platte mit den Arien von Verdi spielte.
    »Und nun komm her, und geh an dem Mäuerchen entlang wieder zurück zum Haus. Und lauf ganz langsam, so wie Grandma.«
    Laura atmete tief durch und lief barfuß den schmalen Weg entlang. Sie warf einen kurzen Blick über das Mäuerchen, konnte aber im Dunkel der Nacht das Rosenbeet nicht sehen, geschweige denn Mark, der dort irgendwo sein musste. Zwei, drei Schritte weiter geriet sie plötzlich ins Straucheln, sie hatte den Eindruck, dass ihr Kleid irgendwo hängen geblieben war. Immer kräftiger zog es sie nach rechts, dorthin, wo es hinter der kleinen Mauer einige Meter hinunterging zum Rosenbeet. Laura versuchte ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen. Sie blickte nach unten und sah eine Hand, die an ihrem langen Kleid zog.
    »Mark, hör sofort auf!« Laura riss sich los. Die Hand war verschwunden. Kurz darauf stemmte sich Mark über die Mauer und setzte sich neben Laura auf den Rasen. »Da gibt es einen Sims, auf dem man gut stehen kann«, erklärte Mark. Er wollte ihr beruhigend einen Arm über die Schulter legen, aber Laura wehrte sich. »Nein, ich möchte erst das Kleid loswerden.« Sie zog das Seidenkleid über den Kopf und faltete es zusammen. »So, jetzt darfst du dich bei mir entschuldigen. Du hast mir einen großen Schrecken eingejagt.«
    »Dabei habe ich nur ein klein wenig gezogen und sofort wieder losgelassen.«
    »Wenn du aber richtig fest am Kleid gezogen hättest …«
    »Und wenn ich nicht wieder losgelassen hätte …«
    »Und wenn ich eine alte Frau wie Ottilia gewesen wäre …«
    »Ja, dann würdest du vielleicht jetzt auch da unten im Rosenbeet liegen.«
    Sie machten eine Pause. Er fuhr mit den Fingerspitzen über ihren nackten Körper.
    »So könnte es gewesen sein«, flüsterte sie.
    »Er könnte es gewesen sein«, ergänzte er und drückte Laura fest an sich.

53
    F ranco Paolo saß in den Antiche Cantine Ardenghi an einem kleinen Holztisch direkt an der Theke. Die venezianische Weinschenke in Cannaregio, ganz in der Nähe des Campo de S. S. Giovanni e Paolo, ist über hundert Jahre alt.

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