Vereist (German Edition)
Bruder wie ein Familienmitglied behandelt wurde. Kein leichtes Unterfangen. Die Betreuung geistig Behinderter wurde nicht gut bezahlt. Oft arbeiteten in der Branche gestrandete Existenzen ohne nennenswerte Ausbildung. Samuels Betreuer musste beileibe kein studierter Psychologe sein, aber Alex’ Bruder brauchte jemanden, der ihm half, ihn schätzte und verstand. Alex hätte diese Aufgabe selbst übernehmen können. Doch seine Frau hatte ihn vor die Wahl gestellt:
Er konnte mit ihr leben oder mit seinem Bruder. Entweder oder.
Alex hatte vor Gott geschworen, dass er alles tun würde, damit diese Ehe funktionierte.
Also hatte er sich für seine Frau entschieden, für seinen Bruder das bestmögliche Pflegeheim gesucht und ihn jedes Wochenende besucht.
Dass es Samuel in der Wohngruppe gut gefiel, hatte Alex eine Last von den Schultern genommen. Samuel war selbstständiger als die meisten anderen Bewohner, und die Heimleitung gab ihm oft kleine Aufgaben. Er half bei der Betreuung anderer Patienten, erledigteleichte handwerkliche Arbeiten, organisierte Bastelstunden, arbeitete im Garten und kochte sogar manchmal. Samuel blühte auf. Bei jedem Besuch schleppte er Alex von einer Ecke der Maxwell-Wohngruppe in die andere und stellte ihm erneut die Leute vor, die Alex im Lauf der Jahre schon Dutzende Male gesehen hatte. Samuel zeigte ihm seine neuesten Kunstwerke oder die blühenden Rosenbüsche.
Trotzdem blieben Schuldgefühle. Alex hatte die Verantwortung für Samuel, wusste aber, dass er ihm nicht die Förderung und die Anreize bieten konnte, die er im Heim fand. Das machte ihm zu schaffen. Jedes Wochenende, wenn Alex wieder wegfuhr, tätschelte Kathy Maxwell seine Schulter und wiederholte ihr Mantra. »Er ist glücklich hier. Hören Sie auf, sich selbst zu zerfleischen.«
Dann nickte Alex die freundliche Frau lächelnd an und ignorierte das schmerzhafte Ziehen in seiner Brust.
Den letzten Besuch bei seinem Bruder würde er nie vergessen.
Samuel hatte ihn nicht mit der üblichen Begeisterung begrüßt. Als Alex ihm die Faust zum Faustgruß hingehalten hatte, hatte er weggeschaut.
»Hey, Kumpel. Was ist los?« Er wuschelte Samuel durchs dunkle Haar und nahm sich vor, Kathy zu sagen, sein Bruder müsste zum Friseur.
»Ich bin nicht dein Kumpel.« Samuel schlug Alex’ Hand weg und schaute düster aus dem Fenster.
Autsch.
»Kumpel« nannte er Samuel schon von klein auf. Den Spitznamen hatte ihm ihr Vater gegeben, und als kleiner Junge hatte Samuel allen Leuten erklärt, sein Name sei »Kumpel«, nicht Samuel.
Alex musterte seinen Bruder eingehend. Er wirkte schmaler als sonst und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Normalerweise strahlte Samuel. Er hatte ein ansteckendes Lächeln und zog mit seinem blubbernden tiefen Lachen andere Menschen in seinen Bann. Alex fragte sich oft, was bei einer normalen Geburt aus Samuel geworden wäre. Samuel war zu lang ohne Sauerstoff gewesen. Er war genauso groß wie Alex, hatte dieselbe Haar- und Augenfarbe, aberein etwas rundlicheres Gesicht und einen rundlicheren Körper. Hätte Samuel Alex’ Leidenschaft fürs Hanteltraining und Laufen geteilt, dann hätte man sie für Zwillinge halten können. Jetzt, wo er etwas abgenommen hatte und mit den Schatten im Gesicht sah Samuel Alex ähnlicher denn je.
Irgendetwas war eindeutig nicht in Ordnung. Alex sah sich nach Kathy um. Vielleicht wusste die großmütterliche Heimleiterin, was Samuel beschäftigte. Wenn Samuel schlecht gelaunt war, gelang es Alex meist nicht, ihn zum Reden zu bringen. Weil er die Heimleiterin nirgends sah, setzte Alex sich mit seinem Bruder auf das geblümte alte Sofa und versuchte, ihn ein bisschen aufzuheitern.
»Willst du fernsehen? Ich schaue mal, ob irgendwo
SpongeBob
läuft.«
»Nein.«
Okaaay
. Normalerweise zog
SpongeBob
immer. Alex sah aus dem Fenster des kleinen Wohnzimmers. Es regnete in Strömen. Um eine Tour durch den Garten konnte er Samuel schlecht bitten. Vielleicht …
»Rosa ist weg.«
Alex blinzelte. Er versuchte, sich zu erinnern, wer Rosa war. Dann fiel ihm die schwarzhaarige Frau ein, die immer ein Hündchen mit sich herumschleppte, das so klein war, dass es in eine Teetasse passte.
»Wohin ist sie denn?«
Samuel zuckte die Schultern.
»Besucht sie ihre Familie? Oder ist sie bloß beim Einkaufen?« Schwärmte sein kleiner Bruder seit Neuestem für seine junge Mitbewohnerin?
»Sie ist weg. Und sie kommt nie wieder.« Samuels Stimme brach, und Alex machte sich Sorgen, dass sein
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