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Verfallen

Titel: Verfallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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Newsletter, ein paar lustige Filmchen, für die ich momentan nicht in Stimmung bin, und eine E-Mail im Telegrammstil von meinem Freund Erwin, der bis Dienstag an einem Seminar in Berlin teilnimmt.
    Zu guter Letzt flattern noch drei Nachrichten von meinen Kollegen – pardon: Ex-Kollegen – herein. Sie hätten es gerade von Sjef gehört, wären alle entsetzt, wünschten mir alles Gute und hofften, ich käme nächste Woche trotzdem mit auf den jährlichen Betriebsausflug. Na klar. Als hätte ich noch Lust dazu.
    Mir ist nicht danach, ihnen zu antworten. Vielleicht morgen, wenn es mir wieder besser geht.

2
    Es geht mir nicht besser. Im Gegenteil: Ich fühle mich elender, verwirrter und nutzloser denn je nach einer schlaflosen Nacht, in der ich meine Cola so lange mit Bacardi verdünnt habe, bis die Flasche leer war, stundenlang auf dem Sofa herumlag und von einem Sender zum nächsten zappte. Die Niedergeschlagenheit ergriff immer mehr Besitz von mir.
    Dabei war es nicht so sehr die Angst vor der Arbeitslosigkeit, die mich wach hielt. Vielmehr war es Wut. In erster Linie Wut auf Sjef, aber letztendlich auch auf die wahre Ursache des Schlamassels: moi. Meine Wenigkeit.
    Ich hatte schon seit einer ganzen Weile den Eindruck, dass Sjef mich aufs Abstellgleis schob, mir vielleicht sogar aktiv Steine in den Weg legte, aber ich habe nichts dagegen unternommen. Ich habe meine Artikel geschrieben und anschließend untätig zugesehen, wie er alles aus dem Kontext riss, mit der Reihenfolge stümperte, die Anzahl der Wörter halbierte und die Seele herausschnitt. Kein einziger Artikel gelangte unversehrt ans Ziel. Warum habe ich mich nie dagegen gewehrt? Warum bin ich nicht schon früher wütend geworden und habe mich an den Chefredakteur gewandt? Was glaubte ich eigentlich, mit meiner Passivität zu erreichen?
    Gegen Morgen bin ich davon überzeugt, an meiner Kündigung selbst schuld zu sein. Meine Laune sinkt noch tiefer unter den Nullpunkt, als auf den Stellenmärkten im Internet kein einziger attraktiver Job in unserer Umgebung zu finden ist. Höchstens in der Nähe von Amsterdam. Ich überlege, ob ich weggehen soll. Umziehen nach Den Haag oder Amsterdam, zweihundert Kilometer weg von meiner Heimatstadt, meinen Freunden und meiner Familie? Noch einmal ganz von vorne anfangen?
    Mit Aussicht auf eine interessante Stelle hätte ich vielleicht ernsthaft über einen solchen Schritt nachgedacht. Aber ich glaube nicht an eine derartige Chance. Nicht mehr. Ich befürchte, meine Entlassung ist kein Zufall, sondern ein Menetekel. Wieder einmal habe ich eine falsche Entscheidung getroffen.
    Als ich vor fünf Jahren mit dem Studium anfing, waren die Stellen für Journalisten bei der Presse schon dünn gesät, inzwischen sind sie eine Rarität. Das Einsparvirus greift rasant um sich, alles ist im Wandel begriffen. Immer mehr Leute lesen die Zeitung online – kostenlos, ohne einen müden Cent dafür zu bezahlen –, und nur, wenn sie eine Wohnung suchen oder Hintergrundinformationen brauchen, kaufen sie die dicke Samstagsausgabe mit der Hochglanzbeilage. Abgesehen von den Lesern im Verbreitungsgebiet meiner ehemaligen Zeitung natürlich. Die kaufen gar keine Zeitung mehr.
    Mit einer Tasse starkem Kaffee mache ich es mir auf dem Sofa bequem und reiße meinen Laptop aus dem Schlaf. Keine neuen Nachrichten. Auch nicht von Dianne.
    Meine letzte E-Mail an sie ist bereits vier Tage alt. Heute Nacht habe ich sie sicherheitshalber noch einmal verschickt. Seitdem Dianne nach Frankreich mitten ins Nirgendwo gezogen ist – au milieu de nulle part, wie es auf Französisch so schön heißt –, reagiert sie nicht mehr so prompt wie früher auf meine E-Mails und SMS .
    Der nächste Samstag ist schon monatelang in meinem Kalender vorgemerkt: Meine erste richtige Urlaubswoche, seit ich bei der Zeitung angefangen habe, werde ich bei ihr verbringen. Wie sehr ich mich darauf freue! Jetzt, wo ich sowieso nichts anderes mehr zu tun habe, würde ich am liebsten gleich morgen früh in mein Auto springen. Meine In-between-jobs -Zeit beginnt offiziell erst in zwei Wochen. Die Jobbörse und das Arbeitsamt können noch ein bisschen warten.
    Ich nehme mein Handy vom Wohnzimmertisch und schreibe eine SMS :
    HI D, WO TREIBST DU DICH RUM? BITTE MELDEN, EGAL WIE, OK? X E.
    Einen Augenblick lang starre ich mein Telefon an, als könne es jeden Moment anfangen zu summen. Dann stehe ich auf und stecke es in die Tasche meiner Jeans. Gemächlich recke und strecke ich

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