Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Verfallen

Titel: Verfallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
Vom Netzwerk:
müssen, hätte garantiert auf »Student« getippt.
    Ein Mensch passt sich ganz von selbst seiner Umgebung an, das habe ich schon oft gehört. Diese Anpassung sei ein Automatismus. Die Umgebung präge den Menschen und bestimme, in welche Richtung er sich entwickelt. Man könne sich verbiegen, wie man wolle, die Zwänge der Wohn- und Arbeitswelt holten einen ein.
    Ich frage mich inzwischen, ob es nicht genau andersherum ist und die Menschen automatisch die Umgebung auswählen, die am besten zu ihnen passt. Im Moment bin ich jedenfalls froh, dass ich mir noch keine teurere Bleibe gesucht habe.
    Dianne hat sich noch immer nicht gemeldet, weder per E-Mail noch per SMS . Wenn ich sie anrufe, meldet sich ihre Mailbox. Bei jeder anderen hätte eine solch einseitige Funkstille wohl bedeutet, dass die Freundschaft abgekühlt ist, aber bei Dianne kommt mir das erst gar nicht in den Sinn.
    Wir kennen uns schon fast unser ganzes Leben lang. Sie zog mit ihren Eltern in das Nachbarhaus, als ich drei Jahre alt war. Dianne war einen Kopf größer als ich, schon fast sechs und kam uns fast täglich besuchen. Dianne ist das einzige Kind zweier Weltverbesserer, die im ganzen Land an Demonstrationen teilnahmen. Wenn sich ihre Eltern wieder einmal gemeinsam mit ihren fanatischen Freunden an das Tor einer umweltverschmutzenden Fabrik angekettet hatten, aß und übernachtete Dianne bei uns.
    Das Rollenverständnis meiner Mutter ist eher traditionell: Sie war einfach für meine Brüder und mich da, und auch für Dianne, ihr Kuckuckskind, das sie halb als ihr eigenes adoptiert hatte. Dianne benahm sich ihrerseits wie meine ältere Schwester, an der ich mich orientieren konnte.
    Wir hatten von jeher eine enge Beziehung, obwohl mir Dianne wegen des Altersunterschieds stets um einen Schritt voraus war. So besuchten wir zum Beispiel nie dieselbe Klasse, aber immerhin denselben Gymnasialzweig der Gesamtschule.
    Dianne hatte mich dazu angeregt, Französischlehrerin zu werden. Weil ich keine Ahnung hatte, was ich nach der Schule anfangen sollte, schrieb ich mich für dieselben Fächer ein, die sie bereits seit zwei Jahren studierte. Dianne hat tatsächlich eine Weile als Lehrerin gearbeitet, sich danach aber zur Dolmetscherin und Übersetzerin weitergebildet. Auch ich gab schnell auf, nachdem ich erst einmal ins Berufsleben hineingeschnuppert hatte. Ich war kaum zwanzig und musste unmotivierte Vierzehn- bis Sechzehnjährige unterrichten, deren Eltern im selben Alter wie meine waren und die mich genauso wenig ernst nahmen wie ihre Sprösslinge. Es war extrem nervenaufreibend. Als Journalistin zu arbeiten erschien mir sowohl spannender als auch weniger konfliktträchtig. Die Umschulung bedeutete zwar, dass ich einen weiteren Kredit aufnehmen musste. Aber ich war mir sicher, mich mit meinen Französischkenntnissen im Bereich »Bildung und Wissenschaft« spezialisieren zu können. Oder »irgendetwas mit französischsprachigen Ländern« anzufangen. Nicht nur würden sich durch meine Vorkenntnisse meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen, sondern ich hätte sogar bessere Aufstiegsmöglichkeiten. Das redete ich mir jedenfalls ein.
    Ich sollte lieber allmählich akzeptieren, dass ich Spezialistin im Treffen falscher Entscheidungen bin. Wenn ich so weiterkrebse, habe ich mit dreißig noch keinen anständigen Job. Ich brauche unbedingt ein gutes Gespräch, ein Gespräch mit jemandem, der mir einen Spiegel vorhält. Dessen Urteil ich mir zu Herzen nehme.
    Dafür kommt eigentlich nur eine Person in Frage – und die tut so, als sei sie nicht zu Hause.
    Dass Dianne tatsächlich nicht zu Hause ist, glaube ich nicht. Wenn sie länger als ein paar Tage weggefahren wäre, hätte sie mir sicherlich Bescheid gesagt. Obwohl wir uns seit einem halben Jahr nicht gesehen haben und sich unser Kontakt auf E-Mails und eine gelegentliche SMS beschränkt, haben wir uns nicht entfremdet. Dafür ist unsere Bindung zu stark.
    Bestimmt gibt es einen triftigen Grund für die Funkstille.
    Ich werde es bald erfahren, denn ich habe soeben beschlossen, mich morgen früh auf den Weg zu machen.

Es knallte kein Schuss.
    Sie fühlte keinen stechenden Schmerz.
    Sie fiel nicht in eine finstere Tiefe, ein schwarzes Loch.
    Sie lebte noch immer.
    Hoch ragte er über ihr empor und starrte mit zusammengekniffenen Augen den langen Lauf entlang. Die Jagdwaffe war noch immer auf ihre Brust gerichtet.
    »Bitte!«, flüsterte sie.
    »Sei jetzt still.«
    »L-lass mich bitte gehen. Bitte.«
    Er

Weitere Kostenlose Bücher