Verfallen
unterwegs ständig in den Haaren lagen und verbissen ihr Rückbankterritorium verteidigten, langweilte ich mich nie. Ich hatte eine lebhafte Fantasie und stellte mir vor, dass ich die Berglandschaft, die draußen vorbeiflog, nicht im Auto, sondern auf dem Rücken eines geflügelten Pferdes durchquerte. Dann wieder rutschte ich so weit wie möglich auf dem Sitz nach vorn und beugte mich zurück, um in die Wolken zu schauen, die alle ihre eigene Geschichte erzählten. Und ich las Bücher, die ich gleich stapelweise mitnahm. Einige hatte ich bereits ausgelesen, bevor wir unser Reiseziel erreichten.
Doch jetzt kann ich mich weder in ein dickes Buch versenken noch zu den Wolken aufblicken. Auf der langen, langweiligen Strecke nach Orleans schlage ich die Zeit tot, indem ich Chips knabbere, Radio höre und SMS lese und beantworte. Erwin ist ebenfalls im Auto unterwegs. Seine Botschaften werden immer anzüglicher, und ich schicke neckische Bemerkungen zurück.
Obwohl wir uns erst seit drei Monaten kennen, stört es mich nicht allzu sehr, Erwin ein Weilchen nicht zu sehen. Unsere Beziehung fühlt sich angenehm leicht und unverbindlich an. Er sieht ziemlich gut aus – langhaarig, groß –, und auch außerhalb des Schlafzimmers verstehe ich mich gut mit ihm. Sehr tief gehen meine Gefühle allerdings nicht, und die Schmetterlinge im Bauch sind bisher ausgeblieben.
Vielleicht, denke ich jetzt, warten wir beide unbewusst auf etwas Besseres: die wahre Liebe, unwiderstehlich attraktiv, die die Erde erbeben lässt und mit ihrem Blick schlafende Vulkane zum Ausbruch bringt. Unwillkürlich muss ich kichern. Bis es so weit ist, leisten wir einander Gesellschaft, damit wir nicht alleine sind, falls sich die wahre Liebe als Hirngespinst erweist.
So sehe ich die Sache, und obwohl Erwin und ich nie ausdrücklich darüber gesprochen haben, bin ich so gut wie sicher, dass er genauso empfindet. Ich habe ihm auch noch nicht von meiner Entlassung erzählt. Erst will ich mir diese Auszeit gönnen und den Urlaub dazu nutzen, mir über einiges klar zu werden: was ich kann, was ich will, was ich als Nächstes unternehmen werde. Ich weiß, dass Dianne mich dabei unterstützen wird.
Ich kenne keine Frau, die so leidenschaftlich ist wie sie – so intensiv und willensstark, dass sie unwillkürlich jeden in ihren Bann schlägt. So ist sie schon immer gewesen, seit ich sie kenne. Früher stürzte sie sich voller Hingabe auf alles, was sie interessierte, ob es nun ein Projekt für Kinder in Mali war – für das unsere Schule jedes Jahr Spenden sammelte – oder ein Dichter des siebzehnten Jahrhunderts wie Jean de La Fontaine, dessen Werk wir während des Studium durchnahmen. Still sitzen konnte sie nie. Wenn sie gerade keine Arbeit hatte, machte sie sich als freiwillige Helferin im Altenheim, Jugendzentrum oder Tierheim nützlich.
Wenn ich ehrlich bin, habe ich im vergangenen halben Jahr nicht nur Dianne selbst schmerzlich vermisst, sondern vor allem ihre Unterstützung und ihre unerschöpfliche Energie. Ich kann mir keine schönere Auszeit vorstellen als bei ihr in Frankreich auf dem Land.
Noch besser wäre allerdings, wenn sie endlich etwas von sich hören ließe. Seit heute Morgen habe ich sie fast jede Stunde zu erreichen versucht, aber ihr Handy ist noch immer ausgeschaltet.
Und wenn sie wirklich nicht zu Hause ist, wenn ich nachher ankomme? Was dann?
5
Es ist bereits Abend, als ich den kleinen Ort durchquere, in dessen Nähe Diannes Weiler »Le Paradis« liegen muss. Ein typisch französisches Dorf, wie es in dieser Region häufig vorkommt: Die Häuser haben beigefarben oder grau verputzte Fassaden und stehen unmittelbar an den schmalen Bürgersteigen. Die Hauptstraße wird von Laternen gelblich erleuchtet, wirkt aber wie ausgestorben. Keine Menschenseele zu sehen. Alle Fensterläden zugeklappt. Auch die wenigen Geschäfte des Dorfes sind geschlossen, aber schließlich ist es Sonntagabend.
Viel Abwechslung scheint es für die Dorfbewohner nicht zu geben. Am Ortseingang ist mir eine kleine Post aufgefallen, danach kam ich an einem Bäcker, einem Metzger und einer Apotheke mit grünem Neonkreuz an der Fassade vorbei. Ein Stück weiter entdecke ich einen kleinen Supermarkt. Direkt vor dem Schaufenster sind Metallregale voller Gasflaschen angekettet.
Hier geht Dianne also einkaufen, denke ich und fahre langsamer, um das dunkle Dorf besser in Augenschein nehmen zu können. Das ist jetzt ihre Heimat, ihr Zuhause, zwölfhundert
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