Verfallen
schüttelte den Kopf. »Geht nicht. Du hast zu viel gesehen.«
Er wird mich ermorden.
Ich sehe es, ich spüre es.
Dieser Mann hatte ihr unglaublich viel bedeutet. Wie hatte sie sich so in ihm täuschen können? Wie hatte sie es zulassen können, sich so hoffnungslos in ihn zu verlieben, solche Risiken einzugehen und sein Kind zu empfangen?
Mein Kind.
»Doch!«, rief sie atemlos. »Natürlich geht es!«
»Du bist weggelaufen.«
»Ich habe mich erschreckt, einfach erschreckt. Das ist alles.«
Er schnaubte. Seine Stimme klang jetzt sanfter, weniger zornig: »Ich wünschte, du hättest es nicht gesehen.«
»Es spielt keine Rolle.«
»Du musst mich hassen«, stellte er fest.
»Nein! Nein, ich liebe dich!« Tränen der Verzweiflung flossen ihr über die Wangen.
Ich bin blind gewesen, dachte sie. Blind und taub.
Sein Finger lag noch immer auf dem Abzug. Eine kleine Bewegung, ein Muskelzucken, und es wäre um sie geschehen.
»Ich, ich w-werde niemals etwas verraten!«, versprach sie weinend. »Niemals. Das musst du mir glauben.«
Ich werde sofort tot sein.
Mein Kind wird später sterben, nicht so schnell und erst lange Minuten nach meinem Tod, wenn mein Herz schon eine Weile lang nicht mehr schlägt und mein Blut in den Adern gerinnt.
»Es spielt keine Rolle, was du getan hast«, fuhr sie fort. »Ehrlich. Ich liebe dich.«
Lange Zeit stand er still da. Reglos.
Regentropfen fielen auf das Laubdach und die Baumstämme. Sie rannen am Lauf hinunter, blieben an der Mündung hängen und spritzten in ihr Gesicht.
»Wir können das alles vergessen«, flüsterte sie. »Wir können zusammenbleiben. Du und ich und …« Ihr Atem stockte. »Und unser Kind.«
Sie sah, wie sich seine Wangenmuskeln anspannten und ein Funke der Unsicherheit und des Zweifels in seinen Augen glomm. Sein Blick bohrte sich in ihren und grub sich einen Weg durch ihren brüchigen Panzer nach innen, auf der Suche nach der Wahrheit.
Er durchschaute sie.
Er spannte die Muskeln an und drückte den Abzug.
4
Erwin ist sauer. Das Deutschseminar ist derart zum Einschlafen langweilig, dass er ein paar Tage früher nach Hause kommt. Und zwar heute. Das hat er mir geschrieben, als ich bereits auf der périphérique unterwegs war – périf im französischen Volksmund – und den Eiffelturm wie einen silbrigen Schatten aus der amorphen Masse der Gebäude in der Ferne aufragen sah. Kurz darauf verschwand das bekannteste Wahrzeichen der Welt hinter einer Lärmschutzwand aus Beton, und ich fuhr in den zigsten Tunnel hinein, eingequetscht zwischen Lkws, das Licht meines Citroëns eingeschaltet.
Das Handy auf dem Beifahrersitz vibriert schon wieder. Ich ignoriere es.
Ich muss mich jetzt auf den Verkehr konzentrieren. Ich werde links und rechts überholt, muss zahllose Aus- und Einfahrten beachten und den Schilderwald im Blick behalten, während plötzlich in meinem Rückspiegel die Scheinwerfer von Motorrädern im Zickzackkurs auftauchen, bis ihre Fahrer knapp vor mir einscheren.
Laut Navigationssystem, das mir passenderweise auf Französisch Anweisungen gibt, sind es von hier aus noch fünfeinhalb Stunden bis zu Diannes Haus. Oder besser: bis zu dem Weiler, in dem Diannes Haus steht, denn Dianne hat keine eigene Adresse.
In den ländlichen Gegenden Frankreichs sind Straßennamen und Hausnummern nicht üblich. Durch die fünfstelligen Postleitzahlen gelangt die Post auf jeden Fall in das Dorf, zu dem der Weiler gehört. Der Name des Weilers fungiert als Straßenname, so hat Dianne es mir erklärt, weil der größte Teil dieser Minidörfer aus nur fünf bis zehn Häusern besteht. Der Postbote kennt die Einwohner namentlich, was Hausnummern überflüssig macht.
Merkwürdiges System.
Vor mir erstreckt sich eine schnurgerade Straße. Ich nehme mein Handy vom Beifahrersitz und werfe einen raschen Blick auf das Display.
MIST. WOLLTE HEUTE ABEND MAL SCHNELL ZU DIR REINSCHLÜPFEN DEIN PECH! X-CHEN ER
Erwins Selbstbewusstsein ist unerschütterlich.
Lächelnd bitte ich ihn schriftlich, auf mich zu warten und heute in zwei Wochen noch einmal wiederzukommen.
Als ich Paris endgültig hinter mir gelassen habe und der Beton rechts und links einer herbstlichen Hügellandschaft gewichen ist, habe ich über die Hälfte der Reise geschafft. Jetzt sind es noch gut fünfhundert Kilometer.
Lange Fahrten machen mir nichts aus. Früher fuhren wir jeden Sommer auf einen Campingplatz in Frankreich oder Italien, und im Gegensatz zu meinen Brüdern, die sich
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