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Verfallen

Titel: Verfallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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Kilometer von unserer Heimatstadt entfernt.
    Ich hatte es mir ganz anders vorgestellt. Schöner, bunter. Freundlicher, vielleicht. Bestimmt liegt es am Wetter, dem bedeckten Himmel – der Herbst hat auch in Frankreich Einzug gehalten.
    Der Strahl meiner Scheinwerfer wandert über eine kleine Kirche aus Kalksandstein. Daneben liegt ein von Neonröhren erhelltes Lokal mit dazugehörigem Kiosk. Über der Bar flimmert ein altmodischer Fernseher. Im Vorbeifahren betrachte ich die Gäste. Männer, überwiegend dunkelhaarig, mit karierten Hemden und Pullundern. Im Licht des Fernsehers sehen ihre Gesichter aschfahl aus. Seit zwanzig oder sogar dreißig Kilometern sind sie die ersten lebenden Wesen, die ich zu Gesicht bekomme.
    Einer von ihnen bemerkt mich und stößt seinen Nachbarn an. Die anderen schauen jetzt auch auf. Mit halb zugekniffenen Augen folgen ihre Blicke meinem Auto, als ich im Schritttempo vorbeifahre.
    Sofort richte ich die Augen geradeaus und trete aufs Gaspedal.
    Bestimmt verirren sich nur selten Fremde hierher. Vor allem solche mit einem auffälligen, gelben niederländischen Nummernschild.
    Nachdem ich das Dorf wieder verlassen habe, biege ich in einen Weg ein, der sich zwischen dunklen Tannen einen kleinen Hügel hinaufschlängelt. Es ist stockdunkel. Im Licht der Scheinwerfer sieht man, dass der Weg teils aus dem Fels geschlagen und teils in den Lehmboden gegraben wurde. Die steilen Seitenwände sind mit Farn bewachsen, dessen Wedel zu dieser Jahreszeit braun vertrocknet sind.
    Das Landschaftsbild gleicht jenem, das sich mir bereits auf dem letzten Streckenabschnitt im Hellen geboten hat: Hügel, steil aufragende Felsen, dichte Wälder, sanft abfallende Hänge mit Äckern, viele Stoppelfelder und Pflanzungen von welkenden Sonnenblumen mit hängenden Köpfen. Hier und da flachsblonde Kühe, regennass und dösig wiederkäuend unter Laubbäumen, deren Blätter sich rot, braun und gelb gefärbt haben. Nur ab und zu ein Bauernhof oder ein kleines Haus.
    Dianne hat oft davon gesprochen, dass sie zurück zur Natur wollte. Irgendwann wollte sie an einem Ort leben, der so weit wie möglich von unserer lärmenden Konsumgesellschaft entfernt lag, einer Gesellschaft, in der die Menschen zu Marionetten der Medien geworden seien. Im letzten Jahr vor ihrer Emigration hat sie immer wieder betont, dass es für sie nicht infrage käme, weiterhin in der Stadt zu leben.
    Ich denke an eine der Mails zurück, die sie mir geschickt hat, nachdem sie gerade erst hierher gezogen war. Sie hatte Fotos ihres kleinen Häuschens angehängt und davon geschwärmt, wie toll es hier sei und was für »interessante neue Freunde« sie gewonnen habe.
    Offenbar hat sie hier Fuß gefasst, obwohl ich mir das bisher nicht vorstellen kann. Vielleicht ist Dianne tief im Inneren doch naturverbundener, als ich dachte. Jedenfalls befürwortet sie so ungefähr alles, was mit Umwelt- und Naturschutz zu tun hat. In den Niederlanden war sie Mitglied von Greenpeace und mehreren anderen Naturschutzorganisationen, aß nur Bionahrungsmittel und hat – nach dem Vorbild ihrer vegetarisch lebenden Eltern – ihr Leben lang keinen Bissen Fleisch zu sich genommen. Damit sie genügend Nährstoffe bekam, versorgte meine Mutter sie mit Walnüssen und gekochten Eiern. Doch so wie Dianne leben Hunderte andere, die trotzdem nicht daran denken, ihre Stadtwohnung gegen ein Leben au milieu de nulle part einzutauschen.

6
    Diannes Einfahrt zweigt auf halbem Wege einen Hügel hinauf von einer schmalen Asphaltstraße ab. Ich wäre trotz Navi daran vorbeigefahren, wenn ich Diannes Wegbeschreibung nicht dabeigehabt hätte, denn die Zufahrt gleicht eher einem Feldweg. Vorsichtig biege ich ab und fahre im Schritttempo weiter bergauf.
    Der Weg ist matschig, und in den tiefen Traktorspuren liegen zahlreiche dicke Steine, die die Federung des Wagens auf eine harte Probe stellen. Auf dem Mittelstreifen wachsen Gras und Unkraut, hin und wieder schabt ein Ast am Unterboden meines Autos entlang. Dichter Mischwald schließt sich über dem Weg zusammen wie ein Gewölbe.
    Immer weiter geht es bergauf. Der holprige Feldweg scheint kein Ende zu nehmen. Nebelschleier kriechen aus dem Unterholz und bleiben dicht über dem Boden hängen. Ich unterdrücke ein Gefühl des Unbehagens und bilde mir ein, die Müdigkeit spiele mir einen Streich. Es ist eine lange Reise gewesen, ich habe vierzehn Stunden am Steuer gesessen. Tagsüber sieht es hier bestimmt idyllisch, ja, märchenhaft aus.
    Ich

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